2002 - Irreversibel entleert Mägen & Kinosäle

01.07.2013 - 08:50 UhrVor 11 Jahren aktualisiert
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Irreversibel wird gern auf zwei Merkmale reduziert: seine umgekehrte Chronologie und die drastische Darstellung von Gewalt. Tatsächlich verließen massenweise Zuschauer bei den Vorführungen des Films von Gaspar Noé die Kinos.

In der letzten Woche schrieb ich über den Dokumentarfilm Titicut Follies von Frederick Wiseman, der nicht unbedingt leicht zu ertragen ist. Aber auch fiktionale Werke können diese Wirkung ohne Zweifel transportieren. Kaum ein Regisseur vermag es, so drastische Feel Bad Movies zu drehen wie Gaspar Noé. Im Jahre 2002 schickte er auf dem Filmfestival in Cannes einen Beitrag ins Rennen um die Goldene Palme, der so provokativ war, dass 200 von 2.400 Zuschauern während der Premiere vorzeitig den Kinosaal verließen.

„Most walked out movie of the year“, mit diesem Titel bedachte das amerikanische Magazin Newsweek das Werk, und mein Dozent stellte im Seminar über Avantgardefilm trocken fest: „Die Leute, die rausgegangen sind, haben den Film wahrscheinlich besser verstanden als die Sitzenbleiber.“ Über den Satz lässt sich vielleicht streiten, auf jeden Fall steht aber fest, dass auch Irreversibel zu den Streifen gehört, die sich kaum jemand mal eben Abends während einer gemütlichen DVD-Session zur Entspannung reinzieht.

Schockierende Ästhetik trifft Schock auf Handlungsebene
Das fängt schon in den ersten Momenten an. Nach einem rückwärts ablaufenden Abspann setzt unmittelbar eine Kamerafahrt ein, die bei nicht wenigen Zuschauern heftige Übelkeit auslöst. Scheinbar völlig ziellos schwenkt die Kamera in wilden und unkontrollierten Bewegungen hin und her, während auf der Tonebene ein monotones Brummen die Gehörgänge malträtiert.

Kaum ist der Zuschauer halbwegs an die unkonventionelle Kameraführung gewöhnt, verlagert sich der Schockmoment von der Ästhetik auf die Handlungsebene. Die Geschichte von Irreversibel erzählt Regisseur Gaspar Noé rückwärts. Aus diesem Grund wird der Film immer wieder mit Werken wie Memento von Christopher Nolan oder 5×2 – Fünf mal Zwei von François Ozon verglichen, die eine ähnliche Chronologie aufweisen. Und so beginnt Irreversibel mit einer Racheszene, und mit was für einer.

Das Schlimmste ist noch nicht überstanden
Die extrem drastische Gewaltdarstellung in dieser frühen Szene war es, die in Cannes einen ersten Schwung Zuschauer aus dem Kinosaal trieb. Der Kritiker Andreas Busche von der taz schrieb: „Action-Altmeister Samuel Fuller hat einmal gesagt, man müsse mit einem Maschinengewehr von der Leinwand schießen, um das Publikum zu treffen. Noch nie ist diese Forderung von einem Filmemacher so katastrophal fehlinterpretiert worden.“ Wer die Racheszene allerdings überstanden hatte, der hatte die schwierigste Sequenz noch vor sich.

Während die Kamera mit fortschreitender Laufzeit in Irreversibel immer ruhiger wird, ist der inhaltliche grausame Wendepunkt die brutale Vergewaltigung von Alex (Monica Bellucci), die die Rache überhaupt erst auslöst. Volle neun Minuten hält Gaspar Noé drauf, als ein unbekannter Mann die junge Frau in einer Unterführung vergewaltigt und bis zur Bewusstlosigkeit misshandelt. Während Anhänger des Werkes für den Regisseur in die Bresche sprangen und erklärten, die drastische Szene mache Irreversibel erst glaubwürdig, empörte sich ein Großteil der Zuschauer, der Film provoziere damit unnötigerweise, heische lediglich nach Aufmerksamkeit und erschöpfe sich in abscheulichem Voyeurismus.

„Die Zeit zerstört alles.“
Wie immer jeder Einzelne über die extreme Darstellungsweise in Irreversibel denken mag, der film-dienst brachte in seiner Kritik eine wichtige Beobachtung über die Reduzierung des Filmes auf seine Gewaltszenen und die umgekehrte Chronologie auf den Punkt: „Diese Wahrnehmung verkürzt den Film auf ungerechte Weise: Tatsächlich handelt es sich sowohl um einen zwar überaus drastischen, aber ernst zunehmenden Kommentar über filmische Dramaturgie als auch um eine durchaus moralisch fundierte Äußerung zur Phänomenologie zwischenmenschlicher Gewalt.“

Tatsächlich schaffte es Irreversibel, Debatten auszulösen, die ohne seine drastische Ästhetik vielleicht nicht zur Sprache gekommen wären. So warfen einige Kritiker Gaspar Noé aufgrund seiner Darstellung des Vergewaltigers Homophobie vor. Viele wissenschaftliche Texte befassten sich mit dem dramaturgischen Umgang mit Zeit und der Unabwendbarkeit der Dinge. Und nicht zuletzt wurde Irreversibel zu einem der wohl bekanntesten Beispiele der New French Extremity, die um die Jahrtausendwende eine ganze Reihe radikal transgressiver Filme hervorbrachte.

Was die Menschheit sonst noch im (Film)Jahr 2002 bewegte:

Drei Filmleute, die geboren sind
05. Februar 2002 – Davis Cleveland, nerviger Bruder in Shake it Up – Tanzen ist alles
25. Juni 2002 – Mason Vale Cotton, Sohn von Teri Hatcher in Desperate Housewives
26. Oktober 2002 – Emma Tiger Schweiger, das Ätzkind aus Kokowääh

Drei Filmleute, die gestorben sind
01. Feburar 2002 – Hildegard Knef, die Fotografin aus Die Mörder sind unter uns
27. März 2002 – Billy Wilder, Regisseur von Das Appartement
25. November 2002 – Karel Reisz, Regisseur von Samstagnacht bis Sonntagmorgen

Die großen Festival- und Award-Sieger waren unter anderem
Oscar – A Beautiful Mind – Genie und Wahnsinn von Ron Howard (Bester Film, Regisseur)
Goldene Palme – Der Pianist von Roman Polanski
Europäischer Filmpreis – Sprich mit ihr – Hable con ella von Pedro Almodóvar

Die drei kommerziell erfolgreichsten Filme
Der Herr der Ringe: Die zwei Türme von Peter Jackson
Harry Potter und die Kammer des Schreckens von Chris Columbus
Ice Age von Chris Wedge und Carlos Saldanha

Drei wichtige Ereignisse der Nicht-Filmwelt
01. Januar 2002 – der Euro wird als Bargeld eingeführt
26. April 2002 – beim Amoklauf am Erfurter Gutenberg-Gymnasium tötet Robert Steinhäuser 16 Menschen und anschließend sich selbst
August 2002 – das Elbhochwasser wird klassifiziert als Jahrhunderthochwasser

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