Tag 5: Green Room - Der härteste Thriller in Cannes

18.05.2015 - 08:50 UhrVor 8 Jahren aktualisiert
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Jeremy Saulnier legt mit Green Room in Cannes einen erstklassigen Nachfolger zum Rachedrama Blue Ruin vor und Jesse Eisenberg verarbeitet im Wettbewerbsfilm Louder Than Bombs den Tod seiner Mutter.

Derart frenetischen Jubel, wie ihn Green Room eingefahren hat, habe ich in den letzten Tagen in Cannes noch nicht gehört. Dabei müssen die Zuschauer im neuen Film von Jeremy Saulnier (Blue Ruin) einiges aushalten. Erst Punk-Geschrammel, dann aufgeschnittene Bäuche, halb abgehackte Hände und auseinandergerissene Kehlen begleiten das spontane Gastkonzert einer Band (u.a. Anton Yelchin und Alia Shawkat) im Hinterland Oregans. In dem von Neonazis frequentierten Skin-Club machen sich die Punks keine Freunde. Als sie über die Leiche einer jungen Frau stolpern, kommen eine ganze Menge Feinde hinzu. Der höflich-sinistre Darcy (ein bösartiger Genuss: Patrick Stewart) mag die jungen Herrschaften nämlich nicht gehen lassen.

Remember, this is a movement, not a party.

Blue Ruin war eine minimalistische Rachegeschichte mit Elementen eines Familiendramas. Der Backwood-Slasher Green Room wird als perfides Kammerspiel auf kleinstem Raum zum Laufen gebracht. Draußen wartet eine Horde bewaffneter Neonazis, drinnen breitet sich im Warteraum der Band der blanke Terror aus, als den jungen Musikern klar wird, dass sie beseitigt werden sollen. Die sich anschließende Dezimierung des Personals braucht sich mit ihren per Skalpell gesetzten Genre-Schau- und Schockwerten vor populären Vertretern wie You're Next von Adam Wingard nicht verstecken. Der parallel zum Festival in der Quinzaine des Réalisateurs laufende Green Room ist indessen ein ganz eigenes Biest mit einer schnörkellosen Struktur, die dem stylischen 80er Jahre-Flirt des gegenwärtigen Horrorfilms einen für Saulnier typischen trockenen Humor in Drehbuch und Inszenierung entgegenhält. Die Synthies wären bei den erstaunlich widerstandsfähigen Punks sowieso falsch aufgehoben. Dank des grandiosen Schockers verstehen wir zudem endlich, warum Imogen Poots zur Zeit in jedem Film mitspielt, und lernen, dass sich niemand für die Liebe zu Prince schämen muss. Zumindest wenn einem gerade Schrotkugeln um die Ohren fliegen.

Dass der Jubel für Green Room dieses Ausmaß annimmt, mag auch daran liegen, dass die Zuschauer sich vorher durch die Filme des offziellen Cannes-Programms quälen müssen. Einer davon: Die zweite Regiearbeit von Maïwenn Le Besco. Darin erscheint erst im Abspann in Leinwand füllenden Lettern der Titel: Mon roi. "Mein König", unterbrochen von 13 anderen, kleineren: V i n c e n t C a s s e l. Einige Pressevertreter reagieren mit launigem Applaus. Warum auch immer. Mon roi ist ein besserer Film als Maïwenns Erstling Poliezei, was ihn höchstens ins unterste Mittelfeld des diesjährigen Cannes-Wettbewerbs bugsiert. Aber die Kritiker, oder wenigstens die lautstarken, scheinen einen Narren an herkömmlichen Dramen wie diesem und Morettis komplementär betiteltem Mia madre gefressen zu haben. Wobei der Italiener in seinem Mutterfilm wenigstens weiß, wann gut ist. Mit Emmanuelle Bercot (Regisseurin des Eröffnungsfilms La tête haute) und Vincent Cassel werfen sich in Mon roi zwei schauspielerische Energiebündel in die Rollen, die den Film wie zwei charismatische Duracell-Häschen weit über das verträgliche Maß hinweg am Leben erhalten. Wer glaubt, alles was im modernen französischen Beziehungsdrama fehle, sei physiotherapeutische Beziehungssymbolik, der ist hier genau richtig aufgehoben. Schließlich hat sich hier ein Langspiel-Werbevideo für Reha-Anstalten an der französischen Küste eingeschlichen. Vielleicht als unterschwellige Werbung für die krummen Rücken und verspannten Nacken der Kritiker in Cannes? Als Liebeserklärung an den Alleinunterhalter Vincent Cassel berauscht immerhin die erste Stunde der ermüdenden Beziehungs-Achterbahnfahrt.

Was in Mon roi mit grenzwertigen Knie-Metaphern ausgedrückt wird, breiten Joachim Trier (Oslo, 31. August) und sein Stammdrehbuchautor Eskil Vogt in Louder Than Bombs als Story-Collage aus Träumen, Erinnerungen und Blickwinkeln aus. Nach den selbstzerstörerischen jungen Männern weiten Trier und Vogt ihren Handlungsspielraum auf eine Familie aus und mit im Gepäck sind internationale Stars wie Jesse Eisenberg, Gabriel Byrne, David Strathairn, Amy Ryan und Isabelle Huppert. Letztere gibt die Mutter, eine berühmte Kriegsfotografin, die sich vor zwei Jahren das Leben genommen hat. Anstatt in Japan durch einen Selbtmörderwald zu wandern, heißt es für Vater und Kinder in Louder Than Bombs auskommen miteinander, nebeneinenander, irgendwie. Wie die anderen Filme Triers baut das Drama auf eine äußerst kreative Montage, die uns in die Gefühlswelt von Menschen transportiert, die beständig in einem Zustand der Asynchronität kommunizieren. In Tagträumen erlebt der jüngste Sohn (der beste im hochkarätigen Ensemble: Devin Druid) die Tode seiner Mutter als Panoramen der Zerstörung in extremer Zeitlupe, während andernorts ein und dieselbe Sequenz aus zwei Perspektiven zwei verschiedene Bedeutungen annimmt. Die Macht des Framings in der Fotografie wird bei Trier zum Drehbuch- und Montagemotor. Denn jeder in der Familie hat den Verlust anders erlebt. Der handwerklich beeindruckende Louder Than Bombs macht es sich zur Aufgabe, diesem menschlichen Prisma Rechnung zu tragen.

Im Filmtaummel eines Festivals heißt es, Meinungen wie obigen in kürzester Zeit am Fließband (mit einer ordentlichen Dosis Brombeerjoghurt) zu produzieren. 23.30 Uhr aus dem Kino ins Apartment hasten, vorbei an den viel zu gemütlichen Spaziergängern, die auf dem Weg zur nächsten Party das Flair unter den Palmen und den ein oder anderen Drink einsaugen. Daheim wird in die Tasten gehackt, erste Eindrücke gesammelt, in Worte gefasst. Bei Carol lief das gestern so und heute morgen, in der Schlange zum nächsten Film, hätte ich am liebsten weitergeschrieben, neu formuliert, alles verworfen. Carol ist der erste Film meines Festivals de Cannes, der nach einem mehrfachen Versenken verlangt. Um nachzuvollziehen, wie Todd Haynes seine Version der mittleren Eisenhower-Jahre ohne die melodramatische Künstlichkeit eines Douglas Sirk angeht, sie aber zugleich überhöht als eine Epoche, unter deren klar geregelten Bahnen viele verzweigte Geheimpfade auf Erforschung warten. Noch einmal erleben, wie Therese, aus deren Perspektive der Film erzählt wird, Carol entdeckt. Sie aus dem gläsernen Gefängnis der Konvention - viel schwieriger zu knacken als die läppschen Zellen in James Bond 007 - Skyfall oder Star Trek Into Darkness - entflieht und die ältere Freundin betrachtet wie den ersten Menschen. Und Carols Haar, die Fasern ihres Mantels, ihre makellos lackierten Fingernägel erforscht. Als säße da ein Wesen von einem anderen Planeten auf dem Fahrersitz, das die von Kamermann Edward Lachman in grobkörnigem Super-16 eingefangene raue Großstadt zum Leuchten bringt. Ich habe keine Ahnung, ob Carol das M-Wort verdient. "Meisterwerk" und "Flop" werden in diesem rasenden Filmrausch namens Cannes vor allem bemüht, um zig gesehene Filme in griffige Kategorien zu packen. Eines ist aber klar: Ich muss Carol unbedingt nochmal sehen.

Anmerkung am Rande: Drei der besten Filme des bisherigen Festivals wurden auf Film gedreht: Son of Saul, In the Shadow of Women, Carol. Nur Son of Saul wurde auch entsprechend projiziert, was zu kurzem Jubel im Publikum führte.

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