Tag 1: Salma Hayek futtert für The Tale of Tales ein Herz

14.05.2015 - 08:50 UhrVor 9 Jahren aktualisiert
Mittagspause an der CroisetteRai Cinema
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Die 68. Filmfestspiele in Cannes wurden offiziell eröffnet und zum Auftakt gab es unter anderem eine ausgezeichnete Salma Hayek zu sehen, die ein Herz futterte. Natürlich frisch gekocht.

Eine erste Liste mit Dingen, die du in Cannes nur unter größten Anstrengungen findest: Interviews, Obst,... Filme. Hier wird gerade auf gan z hohem Niveau gejammert, aber das sei für ein, zwei Absätze verziehen. Interviews: Robert Downey Jr. ist schlecht gelaunt, weil ihm ein Journalist unangenehme Fragen stellt? Soll er doch mal das Leben als Back-up für ein Junket-Interview auskosten. Junket-Interview! Back-up! Das heißt drei Tage Ungewissheit, ob du in vier Tagen 30 Minuten nach Antibes gekarrt wirst, um für fünf Minuten mit Charlize Theron über ihren neuen Film zu reden. Und mit reden meine ich hyperventilieren. Das mit den Mad Max-Interviews hat nicht geklappt und bei mehreren Tausend Journalisten und vier "Talents", die ein, zwei Tage in der Stadt sind, war das keine Überraschung.

Nun zum Obst: Die Cannes-Diät, das sind platte Panini, Crêpes und Weißmehl mit Luft, Zucker und Fett. Filme: Filme gibt es in Cannes. Zwei davon habe ich sogar mit eigenen Augen gesehen. Cannes kann aber auch eine riesen Zitterparty sein. Da die Journaille mit farbigen Akkreditierungen in verschiedene Klassen aufgeteilt ist, die nacheinander in die Kinos gelassen werden, kann es zu Hunger Games-artigen Szenen kommen. Wenn die Hunger Games nur im Kapitol stattfinden würden und allen anderen Distrikten der TV-Empfang gestrichen würde. So geschehen beim zweiten Film des ersten Festivaltages, Umimachi Diary von Hirokazu Koreeda (Like Father, Like Son). Da stehst du zweimal hintereinander ein bis zwei Stunden an, ohne hineinzukommen, weil das ausgewählte Kino schlicht zu klein für den Ansturm auf einen Wettbewerbsfilm ist. "Who are you waiting for?", reißt einen da aus dem Warteschlummer und ganz verdutzt die Antwort: "Koreeda-san?" Aber nein, es geht bei diesem Small Talk um wichtigeres als Regisseure, Networking ist gefragt: "moviepilot.de from Germany!"

Es wurden doch noch zwei Filme an diesem ersten Festivaltag (und sehr viel Weißmehl). Zur Eröffnung verzichteten Festival-Direktor Thierry Frémaux und Kollegen auf einen großen Hollywood-Blockbuster. Es wird gemunkelt, Warner habe Mad Max: Fury Road in Cannes sehen wollen - nur nicht als Eröffnungsfilm. Aber was interessieren die Gerüchte von gestern? Emmanuelle Bercot wurde mit ihrem Sozialdrama La tête haute (International: Standing Tall) die Ehre zuteil. Stichprobenartig blickt die Regisseurin auf zehn Jahre im Leben des jugendlichen Delinquenten Malony (Rod Paradot), ständig auf der Suche nach einer Perspektive, die allen Seiten gerecht wird. Als kleiner Junge sitzt Malony zwischen lauter Erwachsenenbeinen und abgeschnittenen Köpfen, die über sein Befinden urteilen. Erst sehen wir nur den ruhigen, verwirrten Jungen, dazu ein Baby auf den wippenden Knien seiner Mutter, große Augenpaare überall. Ein Schnitt und Catherine Deneuve saust als Jugendrichterin in Malonys Welt, die sie zehn Jahre nicht verlassen wird. Mit 16 klaut Malony Autos, wird gewalttätig, das Gefängnis droht. Bercot sortiert ihren Coming of Age-Film von nun an als beinahe zermürbenden Ablauf kleiner Fortschritte und gewaltiger Rückschläge an. Das zehrt von einer außergewöhnlich intimen Beobachtungsgabe, etwa wenn Malony in Wut aus dem Klassenzimmer stürmt und die Betreuerin gelassen, wie im Automatismus, ihre Floskeln zur Beruhigung plappert. Diese Szene ist schon hundertmal so oder so ähnlich vorgekommen und La tête haute investiert viel Zeit, diesen Prozess, wenn auch nicht gänzlich sichtbar, so doch in seinen Anstrengungen nachvollziehbar zu machen.

Nur leidet der Eröffnungsfilm des diesjährigen Festivals in Cannes unter seinen eigenen Ambitionen. Nicht nur Malony steht im Mittelpunkt von La tête haute, sondern das System, was zwangsläufig zu plakativen Verkürzungen auf beiden Seiten führt. Guillaume Canet darf als Betreuer eine Art Malony aus der Zukunft mimen, während La Deneuve als idealtypische Bürokratin mit Herz über die Eitelkeiten der Anwälte lächelt. Das gleitet allzu oft ins Didaktische ab, da seufzt der Film in aller Ausführlichkeit über die unlösbaren Probleme dieser Welt, anstatt bei dem zu bleiben, was den Machern am besten liegt: beobachten und für sich sprechen lassen.

Malony, so der der Tenor des Films, will Liebe, hat allerdings keine Ahnung, wie er diese ausdrücken, geschweige denn beantworten soll. Das gipfelt wiederholt in Wutausbrüchen und so ist das bestimmende Motiv dieses Films nicht das verständnisvolle Lächeln von Catherine Deneuve oder die vom Leben zerfurchte Stirn Guillaume Canets, sondern ringende Körper, auf Linoliumboden, Wiesen oder Asphalt. Es bleibt die einzige Sprache, die unter den Jugendlichen verstanden wird. Diese etwas missverständlich ausgedrückte Sehnsucht nach Zuneigung treibt auch die Figuren in der Märchensammlung The Tale of Tales von Matteo Garrone an. Salma Hayek wünscht sich als Königin nichts mehr als ein Kind, selbst wenn Ehemann John C. Reilly dafür einem Meeresungeheuer das Herz herausschneiden muss. Toby Jones verliert sich derart in einem mysteriösen Riesenfloh (klingt komisch, ist aber so), dass seine Tochter dabei unter die Räder kommt. In der dritten Geschichte innerhalb der Geschichte träumen zwei alte Schwestern vom Liebesspiel mit dem König (Vincent Cassel) und gaukeln ihm dafür falsche Tatsachen vor. Aufwendig ausgestattet und mit einem erstklassigen Ensemble versehen, bleibt The Tale of Tales doch selten mehr als eine Ansammlung oberflächlicher moralischer Pointen, die sich viel zu lang hinzieht. Die Künstlichkeit des Ganzen erstickt beinahe die gut gelaunt aufspielenden Darsteller, etwa Salma Hayek, ohne deren verzweifelt gespielte Mutterliebe ein Gros des Films unerträglich hölzern ausfallen würde. Oder Toby Jones, an dem ganz klar ein Stummfilmstar verloren gegangen ist. Dass die Spezialeffekte teils wirken, als hätte Garrone The Asylum zu Hilfe gebeten, verstärkt den artifiziellen Charakter seines Zeigefinger schwingenden Märchens. Es bleibt eine hässliche Note in einem Film, der ansonsten in jeder Pore exquisit auszusehen hat. Immerhin lebt Salma Hayek in The Tale of Tales den Traum vieler Cannes-Besucher aus: Sie verspeist das frisch gekochte Herz eines Seeungeheuers in vollem Eifer. Ein Apfel wäre mir ja schon genug.

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