Tag 10 - Der kleine Prinz: Holt die Taschentücher raus

23.05.2015 - 08:50 UhrVor 8 Jahren aktualisiert
"Und was ist dein Lieblings-Miike?" - "Ichi the Killer."Warner Bros.
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Der kleine Prinz liefert ein unschlagbares Argument für Stop-Motion-Animationen und Takashi Miike den wahnsinnig verrückten Spaß Yakuza Apocalypse. Tag 10 beim Festival Cannes:

Es begann bei der Taschenkontrolle. Beim Betreten des Festivalpalasts von Cannes vor eineinhalb Wochen konnte ich den Ernst der Lage in der Luft schmecken. Tausende Besucher am Tag und zig Filme, die erst in Monaten ins Kino kommen würden! Die Sicherheitskontrollen hatten von vornherein etwas Symbolisches. Einem Kritiker oder gar Marktbesucher das Smartphone wegzunehmen, der sich täglich 12 Stunden in dem Komplex aufhält - das würde als Ursprung der The Walking Dead-Seuche durchgehen. Also wurden die Taschen nach einem freundlichen Bonjour und einem Blick hinein geknetet, ja sogar massiert auf der Suche nach einem imaginären Camcorder, der Indiana Jones würdig wäre. Irgendwann, es muss so zwischen The Sea of Trees und Carol gewesen sein, blieben die Taschen trotz Sicherheitskontrolle verspannt. Das "bonjour" war immer noch freundlich, der Blick in "le sac" wenigstens flüchtig, aber auf zärtliche Umarmungen mussten Leder, Polyester und LKW-Planen verzichten. Nun, da sich das Festival in Cannes dem Ende neigt, sind die abschreckenden Kontrollen in den Status eines Rituals übergangenen. Sie werden vollzogen - der leere Blick in die volle Tasche - aber niemand weiß mehr, woher sie kommen. Welche hochmotivierte Kultur führte sie wohl einst mit dem utopischen Ziel ein, mehrere Tausend Taschen am Tag zu inspizieren?

Es muss eine perfekt durchorganisierte Zivilisation gewesen sein, wie sie von den Erwachsenen im Animationsfilm Der kleine Prinz angestrebt wird. Die auf 80 Millionen Dollar geschätzte Verfilmung des Literaturklassikers von Antoine de Saint-Exupéry wurde in Europa und ohne Beteiligung eines großen Studios gestemmt. Dimitri Rassam heißt einer Produzent, sein Vater Jean-Pierre Rassam hatte in den 1970er Jahren Filme wie Alles in Butter von Jean-Luc Godard, Andy Warhols Dracula und Tess von Roman Polanski produziert. Sohnemann Rassam arbeitete vor allem in Frankreich und wagt sich nach Escobar - Paradise Lost mit Der kleine Prinz von On Animation Studios an seine bisher größte Produktion und einen Heiligen Gral französischer Literaturgeschichte. Dabei wurde der schlanken Erzählung aus dem Jahr 1943 eine passable Rahmung und Weiterführung verpasst. Denn die Geschichte des kleinen Prinzen, seiner Rose und des gestrandeten Fliegers wird diesmal aus Sicht eines Mädchens erzählt, das sie bei ihrem exzentrischen Nachbarn findet. In einer quasi-dystopischen Grau-in-Grau-Gegenwart leidet die Heldin unter den Ambitionen ihrer alleinerziehenden Helikopter-Mutter und die fantastische Reise des Prinzen bildet ihr Heilmittel. Tatsächlich bietet Der kleine Prinz ein hervorragendes Argument für den Wert handgemachter Animationen.

Der von Mark Osborne (Kung Fu Panda) inszenierte Film steht in den computergenerierten Sequenzen aktuellen Hollywood-Produktionen allerhöchstens im Figurendesign nach. Sobald die Geschichte in der Geschichte zum Tragen kommt und die Kamera durch wundersame Papierwolkenkreise zu einem kleinen Asteroiden fliegt, entwickelt Der kleine Prinz die Magie seiner Vorlage. Die Stop-Motion-Animationen der Prinzengeschichte sind ganz einfach atemberaubend und bringen durch die Nähe zu den Originalzeichnungen von Antoine de Saint-Exupéry die nötige Melancholie mit. Nur lässt sich das mehrdeutige Ende der Vorlage schwer ins Schema eines 80-Millionen-Dollar-Films pressen, weshalb das Drehbuch von Irena Brignull (Die Boxtrolls) und Bob Persichetti alles daran setzt, ein handelsübliches Abenteuer im dritten Akt unterzubringen. Zu Tränen rührt die (nicht ganz unendliche) Geschichte nichtsdestotrotz. Am löblichsten neben dem einfallsreichen Spiel mit Animationstechniken ist aber der kindliche Ernst dieser Geschichte. So gut wie ohne Popkultur-Gags und Ironie erzählt, ist Der kleine Prinz ein schöner Film geworden, der sich nicht hinter dem Rücken der Kleinen an die Großen wenden muss.

Der Auseinandersetzung mit Verlusterfahrungen in Der kleine Prinz ging am 10. Festivaltag jene in Chronic von Michel Franco voraus, der 2012 mit Después de Lucia den Un Certain Regard-Hauptpreis gewonnen hatte. Diesmal im Wettbewerb vertreten, zieht Franco die Haneke-Vergleiche wieder magisch an. Immerhin pflegt Tim Roth in langen statischen Einstellungen todkranke Patienten, wobei es ihn allerdings nicht in ein deutsches Dorf der Kaiserzeit verschlägt. Es geht um Liebe, wenn auch sehr viel caché bleibt und vom Zuschauer selbst ergründet werden muss. Der Trumpf des in der allerletzten Szene rasend schnell in sich zusammenstürzenden Films heißt Tim Roth. Als Pfleger David legt Roth eine 90 Minuten lange, bravouröse Lehrstunde in Sachen naturalistischen Schauspiels hin. Für die könnte er am Sonntag einen Preis gewinnen, sofern sich die Jury um die Coen-Brüder wachen Auges durch den zähen Film kämpft.

David kompensiert beim Waschen und Pflegen der Kranken, was ihm fehlt. So innig und freundschaftlich geht er mit den Patienten um, dass in seinem Privatleben die Identitäten verschwimmen. Nach der Beerdigung einer AIDS-Kranken, gibt er sich in einer Bar als ihr Ehemann aus. Aus Sicht der Angehörigen besetzt David einen mit Schuldgefühlen, Wut und Angst ummantelten Ort. Ihm kommt die Nähe zum Kranken zu, die sie gleichermaßen fürchten und ersehnen. Das bringt dem Pfleger in einem Fall eine Klage ein und dem Film seine besten Szenen, wenn es zwischen Roth und seinen Filmpatienten funkt, aus Arbeitsverhältnis Freundschaft erwächst. Leider überfrachtet Michel Franco Chronic vor dem schrecklich feigen Ende mit unnötigen Griffen in Davids Vergangenheit. Als vertraue er selbst seiner auf Beobachtung getrimmten formalen Strategie nicht.

Das Sterben in Yakuza Apocalypse: The Great War of the Underworld von Takashi Miike (Sukiyaki Western: Django) fällt im Vergleich richtig unordentlich aus. Schließlich sind Vampir-Yakuza, Killer-Frösche, Yayan Ruhian aus The Raid, Kappa-Goblins, mörderische Männer Gottes mit Särgen als Rucksack und resozialisierte Gangster mit einem Faible für Strickwaren beteiligt. Das klingt genauso verrückt wie Yakuza Apocalypse daherkommt, namentlich als schräge Horror-Action-Groteske, die alle fünf Minuten mit einer anderen bizarren Idee aufwartet. Wie etwa besagtem Frosch, der in seinem flauschigen Kostüm Yakuza zu Brei schlägt, aber Treppen nur mit Hilfe hochsteigen kann. Jedes Mal, wenn einem in Yakuza Apocalypse das Gefühl beschleicht, der wahnwitzige Höhepunkt sei erreicht, wird noch eine Scheibe nachgelegt, bis sich der Zuschauer selbst fühlt, als hätte man ihm mit einem Vampirvirus angesteckt, den Kopf von den Schultern geschraubt und auf eine Horde Zivilisten losgelassen. Gewürzt wird das Genre-Potpourri mit satirischen Baseballschläger-Attacken auf den Kult der japanischen Gangster im Zeitalter der Rezession.

Im Kino der Reihe Quinzaine des Réalisateurs erntete Yakuza Apocalypse berechtigterweise tobenden Applaus. Zuvor hatte Yayan Ruhian auf der Bühne ein paar Roundhouse-Kicks verteilt, gefolgt von einer herrlichen Videobotschaft Takashi Miikes. Als Geisha verkleidet meinte das Arbeitstier: "Nächste Woche kriege ich Brustimplantate und von nun an drehe ich nur noch Filme über Liebe und Freundschaft." Wie die netten Damen und Herren der Sicherheitskontrolle sagen würden: "Bon film!"


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