1995 - Dogma 95 - Manifest gegen Autorenfilmer

14.11.2011 - 08:50 Uhr
Idioterne von Lars von Trier gilt als ein typischer Dogma-Film
Zentropa / moviepilot
Idioterne von Lars von Trier gilt als ein typischer Dogma-Film
23
10
In unserer Rubrik Markante Momente halten wir Rückschau und blicken auf bedeutende Geschehnisse der Filmgeschichte. Das heutige Ereignis ist noch gar nicht so lange her: 1995 veröffentlichte eine Handvoll dänischer Regisseure das Manifest Dogma 95.

Am 19. November 1995 kam mit Toy Story der erste abendfüllende Animationsfilm von Pixar in die US-amerikanischen Kinos und sorgte dort, und in den folgenden Monaten auch jenseits des großen Teichs, für rasende Begeisterung. Alle waren hingerissen. Alle? Nein. Vier unbeugsame Dänen dürften vom Erfolg des quietschbunten Familienfilms so gar nicht begeistert gewesen sein. Und bei aller düsteren Grundstimmung, die den Skandinaviern gern flächendeckend nachgesagt wird: Diese Vier dachten sich tatsächlich etwas dabei. Am 20. März 1995 hatten sie im Pariser Odeon-Theater mit viel Tamm-Tamm ihr Manifest vorgestellt. Ein Manifest wider den Schnick-Schnack, ein Manifest wider die Auteurs.

Rückblende: selber Ort, andere Zeit. Der französische Regisseur François Truffaut und einige seiner Kollegen plädieren in den fünfziger Jahren lautstark für ein Kino, in dem der Regisseur über allem steht. Er soll sich über Produzenten und Drehbuchschreiber erheben, seinen ganz eigenen Stil entwickeln und so seinem filmischen Werk einen unverkennbaren Anstrich geben – eben ganz wie ein Auteur es im herkömmlichen Sinne zu tun pflegt. Unter dieser Prämisse wenden sich die jungen Filmemacher gegen das etablierte Kino und begründen so eine Phase, die als Nouvelle Vague in die Annalen der Filmgeschichte eingeht. Vierzig Jahre später treten unsere vier Dänen ganz ähnlichen Missständen entgegen. Ihr Ansatz aber ist wahrlich von anderer Art.

Du sollst nicht drehen wider unser Manifest
Mit geradezu missionarischem Eifer legen während einer Feier zum 100jährigen Jubiläum der Kinematografie die Regisseure Lars von Trier, Thomas Vinterberg, Kristian Levring und Søren Kragh-Jacobsen eine Art Keuschheitsgelübde ab, das sich kein geringeres Ziel steckt, als die Rettung des sterbenden Kinos durch die Wahrheit, und nichts als die Wahrheit. Zu diesem Zweck wollen sie nicht nur der Kunst, sondern auch ihren persönlichen Geschmäckern entsagen und den Film auf seine rudimentären Gestaltungsmittel reduzieren.

Und wenn wir schon beim Keuschheitsgelübde sind – der pseudoreligiöse Tonfall bleibt auch im Manifest erhalten. Die vier Dogmatiker bleiben nicht bei der Verbreitung schwammiger Visionen. Sie veröffentlichen stattdessen zehn klare Grundregeln, die in ihrer Formulierung stark an die 10 Gebote erinnern und für ihre Urheber wahrscheinlich auch ähnlichen Stellenwert besitzen.

Du sollst nicht nennen deinen Namen
Die Herstellungsweise eines mustergültigen Dogmafilms verzichtet komplett auf technische Spielereien. Gedreht wird on location, ohne großartig Requisite oder Szenenbild. Nicht einmal künstliches Licht oder gar der Ton dürfen nachträglich hinzugefügt werden. Musik, wenn überhaupt, muss vor Ort live gespielt werden. Die Dogma-Regisseure verachten künstliche Effekte, übermäßige Action, Genrefilme oder auch nur die namentliche Nennung des Regisseurs im Abspann. Den nutzen sie viel lieber, um ironisch auf ihre eigenen Regelverstöße im vorangegangenen Film hinzuweisen.

Das wohl bekannteste Merkmal des Dogma-Films ist aber die wackelige Handkamera. Steadicam und Dolly werden aus dem Geräteschuppen der Filmemacher verbannt und überlassen den Vorrang den Händen des Kameramanns, der sein Werkzeug ganz nach Dziga Vertov -Manier dorthin tragen soll, wo der Film stattfindet. So geschieht es, dass wir im ersten offiziellen Dogma-Werk Das Fest von Thomas Vinterberg durch das Auge der Kamera mitten in lautstarke und handfeste Auseinandersetzungen der Protagonisten hineingeraten und im darauf folgenden Idioten von Lars von Trier einer Gruppe Nackter durch die Botanik folgen. Die Augen müssen wir dabei von Zeit zu Zeit schließen. Und das nicht etwa wegen übermäßig schockierender Darstellungen sondern eher, weil die abrupten Kamerabewegungen schon mal leichten Driesel auslösen können.

Du sollst nicht… ach, wieso eigentlich nicht?
Die beiden Pilotfilme der Bewegung sahnen auf den europäischen Festivals einen Preis nach dem anderen ab und viele Filme ähnlicher Machart von Gleichgesinnten folgen. Doch sorgt das Manifest unserer vier Dänen auch gehörig für Kontroversen in der Filmbranche. Kein Wunder, denn Anarchie und Chaos sind auch im Film nicht unbedingt gleichzusetzen mit Wahrheit. Eine wackelige Kamera mag einen dokumentarischen Anstrich verleihen, trotzdem ist sie eine Gestaltung durch den Kameramann. Das mag selbst Lars von Trier aufgefallen sein, der trotz beschworener Zurückhaltung bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit auf diversen Medienplattformen seine Autorenschaft hinausposaunt.

So kommt es also dazu, dass genau zehn Jahre nach der Präsentation ihres Manifests die vier Dogmatiker Abstand von ihrem einstigen Kozept nehmen. Bereits mit Filmen wie Dancer in the Dark oder Dogville hatte Lars von Trier sich zuvor von den allzu rigiden Vorgaben des Manifests abgewandt und nutzte nur noch einzelne Elemente daraus. Trotzdem erhielten er und seine drei Mitstreiter im Jahre 2008 den Europäischen Filmpreis in der Kategorie Beste europäische Leistung im Weltkino. Was bleibt also vom Dogma 95? Nun, im Zweifelsfall ganz sicher der Driesel.

Was die Menschheit sonst noch im (Film)Jahr 1995 bewegte:

Drei Filmleute, die ihr Debut feierten
Charlize Theron in Kinder des Zorns 3
Michael Bay mit Bad Boys – Harte Jungs
Peter Sarsgaard in Dead Man Walking

Drei Filmleute, die gestorben sind
22. Februar 1995 – Ed Flanders, Pater Dyer aus Der Exorzist III
17. Juli 1995 – Harry Guardino – Lt. Al Bressler aus Dirty Harry
25. Dezember 1995 – Dean Martin, Jamie aus Auf dem Highway ist die Hölle los

Die großen Festival- und Award-Sieger waren unter anderem
Oscar – Braveheart von Mel Gibson (Bester Film, Bester Regisseur)
Golden Globe – Sinn und Sinnlichkeit von Ang Lee (Bestes Drama)
Goldene Palme – Underground von Emir Kusturica

Die drei kommerziell erfolgreichsten Filme
Stirb langsam – Jetzt erst recht von John McTiernan
Toy Story von John Lasseter
Apollo 13 von Ron Howard

Drei wichtige Ereignisse der Nicht-Filmwelt
17. Januar 1995 – Erdbeben der Stärke 7,2 in Kobe, Japan
24. Juni – 7. Juli 1995 – Christo und Jeanne-Claude verhüllen den Reichstag
15./16. Dezember 1995 – die Regierungschefs der EU einigen sich auf den Euro als gemeinsame Währung

Das könnte dich auch interessieren

Angebote zum Thema

Kommentare

Aktuelle News