1999 - Mike Figgis und sein Echtzeit-Experiment

18.06.2012 - 08:50 UhrVor 12 Jahren aktualisiert
Ist Timecode wirklich ein Echtzeit-Film?
Screen Gems / moviepilot
Ist Timecode wirklich ein Echtzeit-Film?
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So richtig echte Echtzeit im Film, geht das überhaupt? 1999 wagt der Regisseur Mike Figgis mit Timecode das Experiment – Markante Momente schaut zurück.

Wo liegt der Unterschied zwischen Theater und Film? Allein zu dieser Frage ließen sich ganze Hausarbeiten verfassen, aber ein entscheidender Unterschied, den jeder schnell benennen kann, liegt in der Darstellung. „Wenn Schauspielerin, dann im Film“, dachte ich mir früher immer, denn das Lernen der Texte erschien mir in der fragmentierten Form während des Drehs doch humaner. Ich weiß nicht, aus welchen Gründen Menschen wie Salma Hayek oder Stellan Skarsgård sich für das Filmschauspiel entschieden haben, für den Film Timecode fiel dieser Vorteil aber auf jeden Fall weg.

1999 erdachte der Regisseur Mike Figgis (Leaving Las Vegas – Liebe bis in den Tod , The Loss of Sexual Innocence) einen Film über Eifersucht und Paranoia, Affären und die oft zwiespältigen Machenschaften in einer Produktionsfirma. Die vielleicht etwas maue Story allein wäre wohl noch keinen Artikel in einer Rubrik wert, die sich mit Filmgeschichte beschäftigt. Das Besondere an Timecode liegt in Machart und Stil des Werks.

Ein Experiment auf ganzer Linie
Den Split-Screen kennt der bewanderte Kinogänger und Serienschauer als typische Darstellungsweise von Telefongesprächen à la Harry und Sally. Aber schon in den Zwanziger Jahren setzte der Regisseur Abel Gance einen dreifachen Split-Screen ein, um seinen Monumentalfilm Napoleon in angemessener Größe als Triptychon vorführen zu können. Und auch in Dr. Jekyll und Mr. Hyde kam das Verfahren kurz darauf wieder zum Einsatz; dieses Mal, um in diagonaler Bildteilung die Persönlichkeitsspaltung des Dr. Jekyll zu vermitteln. Mike Figgis hingegen zeigt uns in Timecode vier voneinander unabhängige Bilder, vier Tonspuren und somit vier Handlungsstränge gleichzeitig.

Auch die Produktionsbedingungen des Werkes, ursprünglich als Video-Performance geplant, waren vergleichsweise abenteuerlich. Denn ein Film, der mit dem Anspruch an Echtzeit wirbt, muss in einem Wisch durchgedreht werden. Ganze fünfzehn Komplettversionen gibt es von dem Streifen, die letzte schaffte es ins Kino. Mehr als einen Durchlauf pro Tag bewerkstelligte die oft improvisierende Crew beim besten Willen nicht, dafür stellte sie sich immer besser aufeinander ein, und so gibt es in der finalen Fassung nur noch erstaunlich wenige Kamerafehler.

Ein Hoch auf die digitale Aufnahmetechnik
Das Drehbuch zu Timecode notierte der Regisseur wie eine Partitur auf Notenblättern, eine Zeile für jeweils einen Darsteller. Ein ähnlich interaktives System machte sich dann etwas später auch die vom Film erscheinende DVD zunutze. Hier wird der Zuschauer in gewisser Weise zum User, Toningenieur und Cutter, kann er doch auf einer Timeline wählen, zu welchem der vier Bilder er gerade den Ton hören möchte. Auch die erste der 15 Durchläufe ist neben der Kinofassung enthalten.

Wie auch immer der Einzelne zur digitalen Aufnahmetechnik steht, ohne sie wäre Timecode in dieser Form jedenfalls nicht zu produzieren gewesen. Das relativ kleine Budget, das Mike Figgis zur Verfügung stand, hätte wohl sonst allein das teure Filmmaterial verschlungen. Ganz so neu wie angepriesen war seine Echtzeit-Idee dann aber doch nicht. Schon in Cocktail für eine Leiche nutzte Alfred Hitchcock 1948 ein ähnliches Prinzip, war mit seinen analogen Kameras allerdings dazu gezwungen, nach einer Weile die Filmrolle zu wechseln. Die betreffenden Stellen kaschierte der Altmeisten gekonnt durch einen raffinierten, unsichtbaren Schnitt.

So richtig echte Echtzeit?
Bleibt am Ende die Frage, ob es sich bei Timecode tatsächlich um einen Echtzeitfilm handelt. Viele Filmwissenschaftler haben sich darüber die schlauen Köpfe zerbrochen und festgestellt, dass dies zumindest im Sinne von Nahtlosigkeit kaum möglich ist, da immer auch Dinge außerhalb der Kadrierung geschehen, die die Kamera nicht zeigen kann. Und auch über den Nutzen der Echtzeit gibt es Diskussionen, schließlich lässt sich Wahrnehmungslenkung auch mithilfe konventionellerer Mittel erreichen (wer mir nicht glaubt, der schaue sich bitte einen Film von Jacques Tati an).

Und noch ein gut gemeinter Rat von mir: Tut euch Timecode bloß nicht bei langsam einsetzender Müdigkeit an, sonst werdet ihr nur wirr im Kopf. Das dachten sich wohl auch große Teile des Kinopublikums und so war Timecode nicht gerade ein Kassenschlager. Ein interessantes Experiment bleibt er aber ohne Zweifel.

Was die Menschheit sonst noch im (Film)Jahr 1999 bewegte:

Drei Filmleute, die ihr Debut feierten
James Franco in Ungeküsst von Raja Gosnell
Ashton Kutcher in Coming Soon von Colette Burson
Kristen Stewart in Das dreizehnte Jahr von Duwayne Dunham

Drei Filmleute, die gestorben sind
18. Januar 1999 – Günter Strack, Professor Manfred aus Der zerrissene Vorhang
07. März 1999 – Stanley Kubrick, legendärer Regisseur von 2001: Odyssee im Weltraum
14. September 1999 – Charles Crichton, Regisseur von Ein Fisch namens Wanda

Die großen Festival- und Award-Sieger waren unter anderem
Oscar – Shakespeare in Love von John Madden (Bester Film, Hauptdarstellerin, Nebendarstellerin)
Goldener Bär – Der schmale Grat von Terrence Malick
Golden Globe – Der Soldat James Ryan von Steven Spielberg

Die drei kommerziell erfolgreichsten Filme
Star Wars: Episode I – Die dunkle Bedrohung von George Lucas
The Sixth Sense von M. Night Shyamalan
Toy Story 2 von John Lasseter

Drei wichtige Ereignisse der Nicht-Filmwelt
24. März bis 10. Juni 1999 – Luftangriffe der Nato auf Serbien
20. April 1999 – Amoklauf an der Columbine High School in Littleton
Die CDU-Spendenaffäre sorgt in den Medien für Schlagzeilen

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