Mit gewaltiger Vorfreude geht man als Pressebesucher selten in die Eröffnungsfilme der Berlinale. Erst muss man sich ans Drängen und Quetschen auf dem Weg in den Multiplex-Saal gewöhnen. Das ist eben nicht wie Fahrradfahren und jedes Mal von Neuem ein Schock. Ähnlich fällt (mit Betonung auf "fallen") häufig die Qualität aus.
Auch vor My Salinger Year fand man sich weniger in der Presse, als in einer menschlichen Presswurst wieder, doch im Kino herrschte Erleichterung. Es ist eine sympathische Liebeserklärung an Leseratten und er bestätigt Hauptdarstellerin Margaret Qualley als eine der größten Schauspiel-Entdeckungen der letzten Jahre.
3 Dinge, die ihr über Margaret Qualley wissen solltet:
- Erstes Aufsehen erregte Qualley mit der Rolle des Teenagers Jill Garvey in HBOs Serie The Leftovers, ihr erster großer Kinofilm war The Nice Guys.
- In Once Upon a Time in Hollywood von Quentin Tarantino spielt sie Manson Family-Mitglied Pussycat, das Cliff Booth (Brad Pitt) mit zur Spahn Ranch nimmt.
- Qualley ist die Tochter von Andie MacDowell und Paul Qualley und kam drei Jahre nach Hudson Hawk - Der Meisterdieb auf die Welt, was keine tiefere Bedeutung hat, aber immerhin kommt jetzt Hudson Hawk in diesem Text vor.
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My Salinger Year eröffnet die Berlinale mit einer strahlenden Margaret Qualley
Eine wahre Geschichte aus den 1990ern ist My Salinger Year, der dritte englischsprachige Film von Philippe Falardeau (Monsieur Lazhar). Basierend auf den Memoiren von Joanna Rakoff gibt die 25-jährige Qualley Hauptfigur Joanna, die ihr Studium (und ihre Beziehung) in Kalifornien spontan für eine Stelle in New York City pausiert.
Als Assistentin in einer Literaturagentur ist sie ihrem Traum von der Schriftstellerei so nah wie nie. Ihre strenge Chefin Margaret (Sigourney Weaver) setzt auf Genauigkeit und Diskretion, besonders wenn es um ihren geheimnisvollsten Klienten geht: den zurückgezogen lebenden Autor des Coming-of-Age-Klassikers Der Fänger im Roggen, J.D. Salinger. Oder "Jerry", wie ihn alle im Büro nennen.
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Qualleys Joanna wird mit dem Autor telefonieren, doch wir haben es nicht mit Salinger - Gefunden! zu tun. Der berühmte Schriftsteller nimmt für Joannes Entwicklung eine besondere Bedeutung ein. Dieser Film gehört allerdings ganz und gar der strahlenden Margaret Qualley.
Tarantinos Once Upon a Time in Hollywood zeigte Qualleys Rollentyp
In Period Pieces, also historischen Stoffen, ist die amerikanische Schauspielerin zu Hause, ob in Quentin Tarantinos Once Upon a Time in Hollywood, in The Nice Guys von Shane Black, in Jean Seberg - Against all Enemies an der Seite von Kristen Stewart oder der Serie Fosse/Verdon.
Die wiederholten Ausflüge in die 60er und 70er Jahre teilen ein Rollenbild, das es in ihrer jungen Karriere noch zu erkunden gilt. Nennen wir es freiheitsliebende junge Frauen, die unter der Sonne Kaliforniens dunkle Seiten verbergen. Qualleys schwindelnd machende Energie scheint oft wie ein natürliches Schutzschild, das uns die Sicht auf emotionale Täler verwehrt.
Once Upon a Time in Hollywood zeigte sie als Manson-Girl, das von Stuntman Cliff Booth am Straßenrand aufgelesen wird. Ihre Füße kennt jetzt jeder, doch Qualleys Spiel im Tarantino-Film, der Wechsel von Naivität und
verführerischer Kontrolle, bildete die Brücke zwischen Hippie-Träumen und Manson-Gewalt. Vor den stereotypen Attentätern am Ende steht erstmal Pussycat, ein archetypisches Produkt der Flower Power-Bewegung an der Westküste. Also auf den ersten Blick.
Im durch und durch kalten Donnybrook - Below the Belt sieht man Qualley in einem gegenwärtigen Setting. Als Komplizin eines brutalen Meth-Dealers (Frank Grillo) spendet sie Männern Trost, während Grillos Schurke schon deren Schädel für die Hinrichtung ins Visier nimmt. Instant-Empathie und eine ebenso plötzliche Apathie wechseln sich in ihrem Spiel ab. Man scheint alles zu sehen und ist doch mit jeder neuen Regung überrascht über die Tiefen, aus denen sie schöpft.
Berlinale-Film: My Salinger Year ist auf Margaret Qualley zugeschnitten
My Salinger Year scheint nun auf eben diese Qualitäten zugeschnitten zu sein. Zwar spielt der Film in den 90ern, doch in Kostümen und Ausstattung erinnert er eher an die Mitte des letzten Jahrhunderts. So wenig hat sich schließlich auch in der Agentur verändert, seit Der Fänger im Roggen 1951 erschien. Über E-Mails und Computer wird die Stirn gerunzelt. Die vielen Absagen an Fans von J.D. Salinger schreibt Qualleys Joanna auf der Schreibmaschine. Wenn er sich doch mal Richtung 90er bewegt, wirkt der Film aufgesetzt wie eine schlechte Perücke.
Die Briefe inszeniert Falardeau abwechslungsreich, in dem die Schreibenden direkt uns Zuschauer ansprechen - und Joanna. Denn sie scheint all die Liebe für Salinger und Verzweiflung über das eigene Leben aufzusaugen. Es ist eine mitreißende Dynamik zwischen Aktenbergen und Bücherschränken. Selbst wenn man nie selbst mit Holden Caulfield durch New York geschlendert ist, bringt Falardeaus lockere Inszenierung und Qualleys Spiel einem die Bedeutung von Salinger (oder irgendeines Schriftstellers) für seine Leser näher. Der Film hält mit Qualleys Energie größtenteils mit.
Als nächstes dreht Margaret Qualley mit Robert Pattinson
Es sind simple Wahrheiten über Selbstfindung und die Verwirklichung von Träumen, die My Salinger Year antreiben. In den Nebenfiguren (etwa Douglas Booth als angehender Schriftsteller) tritt diese Einfachheit dann auch zu stark zutage.
Wenn der Film in späteren Teilen in einen süßlichen Pathos abdriftet, der eher wahllos wirkt als verdient, will man es ihm fast übel nehmen. Doch dann ist da Margaret Qualley, die einen Enthusiasmus und eine Leidenschaft projiziert, die ganz New York City für eine Nacht beleuchten könnten.
Die Ausstrahlungskraft allein macht Qualley vielleicht bald zum Star, aber noch nicht zu einer Schauspiel-Entdeckung. Dafür lohnt eine genaue Beobachtung ihres Spiels, wenn sie als Quell der Empathie in eine Umgebung kommt, in der jede Regung mit einem Standardbrief abgewehrt wird. Wenn sie das Wesen ihrer Heldin in der denkbar unpassendsten Umgebung herausarbeitet. Hier muss sie sich im Grunde durch den einnehmenden Enthusiasmus zum Kern einer Figur vorarbeiten, die sich hinter ihrer eigenen Energie versteckt.
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In Tarantinos Once Upon a Time in Hollywood hat sie sich neben Brad Pitt behauptet, auch weil sich ihre Präsenz sofort einbrennt, in einer von Ort zu Ort springenden Erzählung. In My Salinger Year steht ihr zwar Sigourney Weaver zur Seite, doch tragen muss Margaret Qualley den Film vor der Kamera allein. Und das gelingt ihr. Als nächstes dreht sie The Stars At Noon mit Robert Pattinson und der französischen Regisseurin Claire Denis (High Life). Es ist natürlich ein Period Piece.
Was haltet ihr von Margaret Qualley als Schauspielerin?