Oscar-Nominierungen 2015 - Entdeckung der Langeweile

16.01.2015 - 08:50 UhrVor 9 Jahren aktualisiert
Boyhood, Grand Budapest Hotel, Selma, Die Entdeckung der Unendlichkeit, The Imitation Game
Universal, Fox, SquareOne, STUDIOCANAL
Boyhood, Grand Budapest Hotel, Selma, Die Entdeckung der Unendlichkeit, The Imitation Game
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Gestern wurden die Oscar-Nominierungen 2015 verlesen, was besonders wegen der nicht berücksichtigten Filme zum Stirnrunzeln einlud.

Sein Name ist Poop, Dick Poop. Als sich Cheryl Boone Isaacs, Präsidentin der Academy of Motion Picture Arts and Sciences (A.M.P.A.S.), bei der Verlesung der Oscar-Nominierungen einen fäkalen Versprecher leistete, hatte das Internet sein neues Adele Dazeem  gefunden. Ob der Oscar 2015 dieses nur bedingt amüsante Malheur in Sachen Viralität toppen kann, erfahren wir am 22. Februar. Doch selbst der am meisten geteilte Selfie der Weltgeschichte könnte nichts an den eintönigen Nominierungen der 87. Academy Awards ändern.

Die Academy und die Vielfalt
Aber fallen wir nicht gleich mit der schlechten Laune ins Dolby Theatre. Nur acht Beiträge wurden dieses Jahr für den Oscar für den Besten Film nominiert, ein Novum seit der Einführung des größeren Bewerberfeldes 2009. Biopics finden sich darunter, die Lexikon-Einträge zum Thema Oscar bait verzieren könnten. Freilich haben es konzeptionell ambitionierte Werke in die Liste geschafft, wie das One-Shot-Wonder Birdman oder die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit, die zwölfjährige Familienexkursion Boyhood und sogar Grand Budapest Hotel. Letzterer passt mit seinen komödiantischen Anteilen sowie der eigenwilligen Erzählweise und Inszenierung so gar nicht ins Schema des bedeungsschwangeren Historienschinkens der Marke Oscar. Nebenbei bemerkt: Von allen Filmen in der Königsdisziplin hat Grand Budapest Hotel zum jetzigen Zeitpunkt weltweit am meisten Geld eingenommen. Mit Whiplash ehrt die Academy zudem einen relativen Newcomer mit einer Nominierung. Das passt zu einem Jahrgang, in dem sich wenige Oscarpreisträger in den Hauptkategorien finden, die Academy also kaum im eigenen goldenen Saft schmort.

Mehr: Das sind die Oscar-Nominierungen 2015

Dann steht da noch das Bürgerrechtsdrama Selma. Natürlich verdient Ava DuVernays Werk den Platz bei den Nominierten für den Besten Film, schließlich ist der Film über die Selma-nach-Montgomery-Märsche und Martin Luther King einer der am besten rezipierten der Saison, wenn nicht des letzten Jahres. 99 Prozent bei Rotten Tomatoes  und der Cinemascore A+ sprechen für Selma-Liebe sowohl bei Kritikern als auch bei Zuschauern. Die Nominierungen der Gewerkschaftspreise (PGA, DGA, SAG...) kündigten bereits an, was gestern wahr wurde. Selma spielt mit zwei Nennungen nur eine Nebenrolle beim Oscar 2015, obwohl kein anderer Film derart den Nerv der Zeit seit Ferguson  trifft. Hier müssen die Geschichtsschreiber und Oscar-Blogger klären, wer mehr Schuld an dem Versäumnis trägt: faule Academy-Mitglieder, zu spät versandte Screener, eine Gegen-Kampagne, Paramount, der Kinostart, der Film oder das leider zeitlose Thema.

Was fehlt...
Es gibt dieses Jahr große Oscar-Favoriten wie Birdman und Boyhood, aber nicht den Über-Film. Wahrscheinlich werden diese beiden das Rennen unter sich ausmachen, wenn keines der britischen Biopics oder Wes Anderson dazwischen funken. Darüber hinaus verleitet die Liste der Nominierten teilweise zum gewohnten Oscar-Stirnrunzeln, etwa wegen der Abwesenheit von The Lego Movie, Höhere Gewalt oder Jake Gyllenhaal. Anders als Selma kommt Bennett Millers Wrestler-Drama Foxcatcher auf ansehnliche fünf Nominierungen, vier davon in den Hauptkategorien Beste Regie, Bester Hauptdarsteller, Bester Nebendarsteller und Bestes Originaldrehbuch. Für den Besten Film reicht es trotzdem nicht. Mit neun Nominierungen ist wiederum Grand Budapest Hotel vertreten, Hauptdarsteller Ralph Fiennes muss dagegen draußen bleiben. Das kann auf eine schwache Kampagne zurückgeführt werden. Vielleicht haben die Academy-Mitglieder auch zu viel gelacht über Wes Andersons teils todtraurige Historienfantasie.

Als die BAFTAs Mike Leighs Biopic Mr. Turner - Meister des Lichts mit Desinteresse begegneten, war absehbar, dass es dem dafür in Cannes ausgezeichneten Schauspielveteran Timothy Spall beim Oscar ähnlich ergehen würde. Wenn schon nicht die Briten auf einen Film über den berühmtesten britischen Maler abfahren, wer dann? Insgesamt finden wir sechs Filme  des vergangenen Cannes-Programms in der Liste, unter anderem dank der Nominierung für Marion Cotillard aus Zwei Tage, eine Nacht. Telluride und Toronto sind in den letzten Jahren als Startblock der Oscar-Saison enorm wichtig geworden. Um den Best Picture-Oscar kämpfen 2015 gleichwohl Filme, deren Premieren fast die komplette Festival-Saison abdecken: von Sundance im Januar, Berlin, Venedig, Telluride und Toronto bis hin zum AFI Fest im November. Beim Oscar 2014 fand die früheste Premiere in dieser Kategorie noch im Sommer statt.

Oscars - na und?
Bei mir überwiegt nach der Verkündung der Oscar-Nominierungen nichtsdestotrotz Indifferenz. Weil sich das Favoriten-Feld in den vergangenen zwei Monaten so gut wie kaum gewandelt hat. Das dämpft die Spannung mächtig. Indifferenz, weil die sehr weiße, sehr männliche Academy ihrem angestaubten Ruf wieder einmal gerecht wird. Deswegen ist der andere Spätstarter der Saison ein "Film der Zeit", welcher der A.M.P.A.S. in ihrer gegenwärtigen Zusammensetzung wohl mehr liegt als Selma: American Sniper von Clint Eastwood. Bradley Cooper bekam für seine Darstellung des tödlichsten Scharfschützen in der Geschichte des US-Militärs gestern seine dritte Schauspiel-Nominierung in Folge. In sechs Kategorien geht das Kriegsdrama ins Rennen.

Sollte der Hauptpreis am 22. Februar tatsächlich bei Birdman oder Boyhood landen, können wir, egal ob uns der jeweilige Film zusagt oder nicht, der Academy applaudieren. Sie würde etwas auszeichnen, was im amerikanischen Mainstream-Kino Seltenheitswert besitzt: experimentierfreudiges Filmemachen. Gibt es ein zweites The King's Speech? Dann werden viele wieder davon anfangen, wie unwichtig die Oscars sind. Das trifft auf den künstlerischen Wert zu, keine Frage. Oscar-Nominierungen und -Gewinne sind vielleicht weniger wichtig als Einspielergebnisse. Aber sie beeinflussen mit, ob Filme noch mehr einspielen, Projekte grünes Licht erhalten, wie die Finanzierung ausfällt und welche Schauspieler, Regisseure oder Drehbuchautoren engagiert werden. Wir können die Oscars mit Gleichgültigkeit abstrafen. Der Großteil Hollywoods tut dies nicht.

Was haltet ihr von den Oscar-Nominierungen?

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