Oscar-Favorit 1917: Darf Krieg so schön aussehen?

19.01.2020 - 10:00 UhrVor 4 Jahren aktualisiert
1917: Sam Mendes ästhetischer Kriegsfilm
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1917: Sam Mendes ästhetischer Kriegsfilm
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In 1917 läuft Kinokunst durch eine atemberaubende Kameraführung zu Höchstform auf. Doch ist die Schönheit des fast schnittfreien Werks einem Kriegsfilm angemessen?

Ich sitze mit offenem Mund im Kino, denn 1917 ist ein Film des Staunens. Ich staune, als ich mich mit eleganten Bewegungen durch überfüllte Schützengräben schiebe. Ich staune, als ich im Schlamm Stacheldrahtzäume umschiffe, um in düstere Minenschächte vorzustoßen. Ich staune, als ich mich unvermutet in die Luft erhebe, um für einen kurzen Moment in der Vogelperspektive auf einen Bombenkrater herabzublicken.

1917 ist ein wahnsinnig schön gedrehter Kriegsfilm fast ohne Schnitte. Zwei junge Soldaten versuchen hier im Wettlauf gegen die Zeit einen Brief-Befehl zum Rückzug rechtzeitig zuzustellen, bevor 1600 Männer in einen deutschen Hinterhalt rennen. Zur dritten Hauptfigur wird dabei die Kamera.

1917: Atemlos rennen wir durch den Kriegsfilm

Während beim Schauen das Staunen über die Bilder dominiert, stellt sich mir nach dem Verlassen des Kinos (und dem langsamen Abstreifen dieser intensiven Erfahrung) allerdings die Frage: Darf Krieg überhaupt so schön sein? Denn:

  • Roger Deakins' Kameraarbeit in 1917 ist der pure Wahnsinn.
  • Doch ist das Style over Substance? Darf die Technik Figuren und Story überflügeln?
  • Ich denke: 1917 wählt eine andere Herangehensweise als andere Kriegsfilme, nämlich eine unmittelbare statt persönliche Erfahrung der Hässlichkeit des Krieges.

1917: Ganz nah dran ... am Krieg

Die Besonderheit von Sam Mendes' Kriegsfilm 1917 besteht darin, dass er mit nur sehr wenigen Schnitten gedreht wurde und diese Schnitte (mit einer Ausnahme) versteckt wurden. 1917 fühlt sich also fast so an wie die (echte) 2-stündige Plansequenz von Victoria, weil das Aneinanderfügen der Einzelteile deutlich besser versteckt wurde als beispielsweise in Birdman.

1917

Immer mehr dieser aus einer langen Einstellung bestehenden bzw. eine solche vortäuschende One-Shot-Werke erreichten uns in den letzten Jahren. Einen Kriegsfilm gab es (mit Ausnahme von 21 Brothers) allerdings noch nicht, obwohl die so gern zitierte Unmittelbarkeit dieser Filme sich zum "Dabeisein" im Kampfgetümmel geradezu anbietet. 1917 verschafft uns im Kino ein hautnahes Miterleben des Krieges, ohne selbst real an einem teilnehmen zu müssen.

"Ich hatte das Gefühl, das würde uns vollständiger in die Welt eintauchen lassen und uns stärker an die emotionale Reise der Charaktere binden", erklärte Sam Mendes gegenüber dem Hollywood Reporter . Nah dran und dabei zu sein, dieses Gefühl hatte ich beim von vielen Zuschauern beschriebenen atemlosen Schauen auf jeden Fall. Mit der emotionalen Bindung verhält sich das bei mir etwas anders, aber dazu später mehr.

1917 und seine Kamera: Ein Tanz im organisierten Chaos

Zusammen mit den Soldaten Blake (Dean-Charles Chapman) und Schofield (George MacKay) begeben wir uns auf Mission, schleppen uns über ausgestorben daliegende Schlachtfelder, geraten ins Scharfschützenfeuer, rennen durch brennende Städte, springen in Flüsse. Die Kamera vollführt einen Tanz um die Protagonisten und wir tanzen mit.

1917

Doch obwohl die zwei jungen Briten die klaren Bezugsfiguren sind und ich mit ihren Handlungen mitfiebere, sind es die Errungenschaften der Kameraarbeit, die mich an die Kante meines Kinosessels fesseln. Sie findet andere Wege durch das Chaos als die Charaktere. Mit losgelöst eigenständigem Blick, kann sie sich ihnen immer wieder annähern und zurückziehen, mal hinterherlaufen und mal vorauseilen.

Wenn der 13-fach oscarnominierte Roger Deakins, der erst 2018 seinen ersten Goldjungen für Blade Runner 2049 gewann, dafür keinen weiteren Preis mit nach Hause nimmt, dann weiß ich auch nicht. Doch wenn etwas so Furchbares wie der Erste Weltkrieg in derart elegante Bilder gekleidet wird, ist das dann schon eine Verherrlichung von Krieg?

Was erwarte ich von einem Kriegsfilm wie 1917?

Ich will nicht leugnen, dass das Schatten- und Farbenspiel aufsteigender Leuchtfeuer in dunkelster Nacht nicht auch einen gewissen Drang zur Schönheit bedient. Doch dass 1917 den Schrecken des Krieges selbst beschönigt oder gar heroisiert, lässt sich dem Film bei allem Staunen über die Bilder in meinen Augen trotzdem nicht vorwerfen.

1917: Benedict Cumberbatch

Dafür sind die Soldaten am Ende zu schlammverschmiert und hohläugig. Dafür gleitet die Kamera zu häufig über blicklos zum Himmel starrende Leichen zwischen Stacheldraht, aufgedunsene Körper im Wasser und stöhnende Feldbetten voll Verwundeter. Dafür sprechen zu viele Figuren wie Andrew Scotts Lieutenant Leslie die Sinnlosigkeit der Situation direkt aus.

Es ließe sich 1917 höchstens vorwerfen, dass seine relativ unbekannten Hauptdarsteller ein Mittel zum Zweck werden, um als gebeutelter Spielball die gloriosen Fahrten der Kamera in die richtige Richtung zu lenken. Dass hier der Stil über die Substanz, Geschichte und Figuren des Films gestellt wird.

1917

Doch wenn ich das tatsächlich glaube, muss ich mich fragen, was genau meine Erwartungen an einen Kriegsfilm sind. Auch Spielbergs Der Soldat James Ryan begann mit einer eindrücklichen, sehr unmittelbar gefilmten Schlacht am Strand, bevor er sich seinen Figuren näher zuwandte. Auch Dunkirk führte uns mit einzelnen Protagonisten durchs Kampfgetümmel. Beides sind eindrucksvolle Filme für sich. Aber müssen sie die Blaupause aller Kriegsfilme sein?

1917 und die etwas andere Kriegserfahrung

Will ich das Genre nach dem immergleichen Schema erforschen? Immer wieder eine kleine Gruppe Soldaten kennenlernen, die mich mit ihren privaten Schicksalen in den Krieg mitnehmen?

1917 wählt in meinen Augen auf spannende Weise einen anderen Ansatz, sich dem Thema Krieg zu nähern. Über George MacKays schon zu Beginn desillusionierten Lance Corporal Schofield wissen wir auch am Ende nicht viel mehr. Sein Freund Blake hat mit einem gefährdeten Bruder zumindest einen konkreten Ansporn, um sich auf den Weg zu machen. Doch nicht er, sondern Schofield wird immer mehr zu Dantes Vergil, der uns durch die Kreise der Hölle führt.

1917: George McKay

Indem die Identifikation mit den Figuren ein Stück weit zurückgenommen wird, verschiebt sich der Fokus stärker auf die Erfahrung des Krieges an sich. Für jemanden wie mich, der Krieg zum Glück nie am eigenen Leib erfahren musste, hat das Wort eine gewisse Abstraktheit.

Doch 1917 kann mir - egal wie inszeniert und choreografiert der Film dabei hinter den Kulissen auch sein mag - mit seiner Kamera als Fenster den Krieg ein Stück weit näherbringen.

Wie realistisch diese Darstellung dabei tatsächlich ist, wenn 1917 sich ständig in Bewegung befindet, obwohl der Erste Weltkrieg an der Westfront eigentlich ein Stellungskrieg war, könnte manchem Zuschauer bitter aufstoßen. Aber wenn ich den Film als fiktiven Einblick begreife, der mir im (buchstäblichen) Schnelldurchlauf unterschiedliche Facetten von Krieg im Allgemeinen hautnah näher bringt, dann kann ich trotz allem nach dem schockierenden Kino-Erlebnis nur hoffen, dass so etwas nie wieder passiert.

Denn nicht der Krieg selbst, sondern die Inszenierung seines Schreckens ist in 1917 eindrucksvoll. In ästhetischen bzw. "schönen" Bildern und Kamerafahrten zeigt mir Sam Mendes die Hässlichkeit des Krieges auf.

Wie war für euch die Erfahrung von 1917 im Kino? Wollt ihr den Film noch sehen?

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