Ich, Antoine Doinel & die Schönheit der Neuen Welle

02.12.2011 - 08:50 Uhr
Sie küssten und sie schlugen Antoine Doinel
Les Films du Carrosse
Sie küssten und sie schlugen Antoine Doinel
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Mit Sie küssten und sie schlugen ihn leistete Francois Truffaut seinen persönlichen Beitrag zur Filmgeschichte und befreite die Kinoindustrie von ihrem beliebigen, fabrikhaften Antlitz: Cineastische Wärme und der unsterbliche Antoine Doinel!

François Truffaut hatte das Herz am rechten Fleck. Er war Zeit seines, leider viel zu kurzen Lebens Fanboy. Er war der sentimentale Quentin Tarantino der Nouvelle Vague. Seine oft autobiographisch eingefärbten Filme strotzen vor selbstloser Cinephilie, vor leidenschaftlicher Liebe zum großartigsten Medium aller Zeiten. Egal ob als Filmemacher, Kritiker, oder Fan von Alfred Hitchcock – Francois Truffaut setzte sich immer für die bestmöglichste und menschlichste Entwicklung des Films und des Kinos ein. Mit seinem Artikel Eine gewisse Tendenz im französischen Film zerrte Francois Truffaut das gängige Nachkriegs-Kino seiner Zeit aufs Schafott: Die etablierten französischen Kinofabriken leide an industriellem Zynismus und einer lähmenden Behäbigkeit. So etwas reichte höchstens, um die Hosen des Spießers zum Wackeln zu bringen. Der grimmige Artikel eines Kinoliebhabers wurde zum grundlegenden Manifest der Nouvelle Vague.

Wie es sich für richtig tolle Typen gehört, hat Francois Truffaut natürlich nicht nur gemeckert, sondern ließ seinem theoretischen Sturm auf die Bastille eine herzhafte Tat folgen. Mit Sie küßten und sie schlugen ihn legte er einen magischen Erstling hin. Der deutsche Titel ist weniger schelmisch als der französische, was schade ist und sich auf die erziehungstechnische und soziale Ebene des Films bezieht. Doch der Film ist so viel reicher und lebendiger, als der passive Titel vermuten lässt. Für mich ist Les 400 Coups (Originaltitel; dt.: Die 400 Streiche) eine Art unpräteniöser, verspielter Citizen Kane, nur europäischer und privater. Ich versuche in ein paar persönlichen Punkten zu beschreiben, weshalb ich diesem Film heute mein Herz für Klassiker schenken muss.

Warum ich Sie küssten und sie schlugen ihn mein Herz schenke
Ich bin persönlich kein allzu großer Fan der Nouvelle Vague. Ich halte sie für wichtig und prägend und genial, doch auch ein wenig unsympathisch und teils verkopft. Francois Truffaus erster Streich verkörpert meiner Meinung nach ganz unbemüht das Beste und Liebenswerteste der Nouvelle Vague. Mit Freude an Materialexperimenten, in langen, langen Einstellungen und ungewöhnlichen Kamerafahrten entdeckt Francois Truffaut die unerschöpflichen Möglichkeiten des Kinos und nimmt uns freundschaftlich an die Hand. Antoine Doinel, Francois Truffaus selbst erklärtes Alter Ego, stromert durch das schwarz-weiße Paris, fetzt sich mit der Mutter, schwänzt die Schule und erkundet die Welt. Genauso schelmisch und verspielt empfindsam tobt Francois Truffaut durch die medialen Felder des Films und lässt kein Wagnis unangetastet. Sie küssten und sie schlugen ihn ist so befreiend wie ein Streit mit der eigenen Mutter und so süß wie gestohlene Süßigkeiten. Ein Hoch auf das sympathischste Debüt aller Zeiten.

Warum auch andere Sie küssten und sie schlugen ihn lieben werden
Wer mit der autobiographischen, selbstzentrierten Art des Francois Truffaut nichts anfangen kann, dem bleibt natürlich immer noch der einizgartige Jean-Pierre Léaud. Ich habe selten eine so vielfältige, respektvolle Kinderinszenierung gesehen. Die Welt des Antoine Doinel geht über die Platitüden des Ausgestoßenen, des unverstandenen enfant terrible hinaus. Das ist der impulsiven und aufrichtigen Spielweise von Jean-Pierre Léaud zu verdanken. Zusammen mit seinem Kumpel Patrick Auffay (René) spielt sich der damals 14-Jährige Franzose mit seiner erwachsenen Körpersprache und seinem teuflisch-engelshaften Schelmentum direkt ins Herz eines jeden Zuschauers, sofern dieser denn eins hat.

Warum Sie küssten und sie schlugen ihn einzigartig ist
Oft kopiert, niemals erreicht: Ich möchte jetzt niemandem den Genuss vorwegnehmen, das erste Mal diesen herzlichen Beginn der Nouvelle Vague bis zum Schluss zu gucken und dann die letzte Szene zu sehen. Daher sei hier nur kurz abstrakt die cineastische Wucht dieser meiner Favoritenszene aller Filmenden umrissen: S/W at it´s best, episch, hoffnungsvoll, wild, dynamisch, still, laut, natürlich, artifiziell, Kunst, Kitsch – und wer sich im Anschluss voller Begeisterung nochmal die erste Szene des Films ansieht, kann sich noch mehr über diese einfache und effektive Klammer freuen.

Warum Sie küssten und sie schlugen ihn die Jahrzehnte überdauert
Der Film ist der Auftakt des sogennanten Antoine-Doinel-Zyklus. In insgesamt fünf Filmen baut Francois Truffaut die Biographie des Antoine Doinel aus und dekonstruiert somit nicht zuletzt sein eigens Leben. Mit Sie küßten und sie schlugen ihn, Antoine et Colette, Geraubte Küsse, Tisch und Bett und Liebe auf der Flucht hat der Regisseur sich selbst und seinem Hauptdarsteller ein episches Denkmal gesetzt. Und wieder verbindet Francois Truffau Herz und technische Innovation auf die angenehmste Art. Aus seinem Antoine Doinel Fundus kann er sich ein eigenes Flash-Back Universum aufbauen.

In Liebe auf der Flucht erinnert sich der erwachsene Vater Antoine Doinel, der natürlich immer noch eigenartig und kindisch ist, an Szenen aus seiner Jugend (Antoine & Colette) und aus seiner Kindheit (Sie küssten und sie schlugen ihn). So wird die Filmfiktion um eine weitere Ebene komplexer, gleichzeitig stabiler. Außerdem ist es einfach faszinierend, den 35-Jährigen Jean-Pierre Léaud zu sehen, wie er sich an die 14-jährige Version seiner selbst aus Sie küssten und sie schlugen ihn erinnert. Das Antoine Doinel-Universum ist so schön und herzlich, dass mir persönlich jedes Mal der Kopf platzt, wenn ich es betrete. Und besonders der Erstling hat es mir angetan. Um noch einmal die Großartigkeit und cineastische Tragweite dieses Films mit den Worten eines Meisters vom anderen Ende der Welt zusammenzufassen: One of the most beautiful films that I have ever seen (Akira Kurosawa)

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