Marey Shelleys Frankenstein ist laut eigener Aussage das wichtigste Buch im Leben von Meisterregisseur Guillermo del Toro. Jede Zelle seiner Verfilmung lässt einen das spüren. Frankenstein bekommt in Deutschland eine Kino-Auswertung und über wenige Netflix-Filme ließ es sich zuvor so eindeutig urteilen: Dieser Film, diese Ausstattung, diese Bauten und diese traurigen Augen von Jacob Elordis Monster verdienen tatsächlich die größtmögliche Leinwand. Beim Filmfestival in Venedig ist Del Toros Jahrzehnte alter Traum einer Verfilmung nun Wirklichkeit geworden.
Del Toros Sci-Fi-Verfilmung ist eine Liebeserklärung ans Monsterdasein
Im hohen Eis des Jahres 1857 setzt der Film ein. Die Wissenschaft und der Entdeckergeist des 19. Jahrhunderts schreiten rapide voran, aber die Natur hat noch ein Wörtchen mitzureden. Eine dänische Expedition zum Nordpol hat sich im Packeis verfangen. Die Crew des Schiffs gabelt in der Eiswüste den verletzten Victor Frankenstein (Oscar Isaac) auf, der von einem Ungetüm verfolgt wird.
In der Kabine des Kapitäns (Lars Mikkelsen) erzählt Victor seine Geschichte. Wie er von seinem strengen Vater (Charles "strenger Vater™" Dance) in der Medizin gelehrt und mit Hieben bestraft wurde, und wie er sich nach dem Verlust seiner Mutter (Lauren Collins) der Überwindung des Todes verschrieb.
So kommt es, wie es in jeder Frankenstein-Verfilmung in Variationen geschehen muss. Als Erwachsener experimentiert Victor im Grenzland der anerkannten Wissenschaft. Mithilfe des reichen Mäzens Harlander (Christoph Waltz) entwirft er eine Apparatur, um in einem neu zusammengeflickten Kadaver den Funken Leben zu entzünden, dessen Schöpfung sonst nur Gott oder der Natur überlassen bleibt.
Ab hier trennen sich die Wege in vielen der geschätzt über 400 Filmadaptionen von Mary Shelleys bahnbrechender Science-Fiction-Geschichte. In James Whales Universal-Klassiker wird Frankensteins Monster aus Versehen zum Kindermörder. Für Mel Brooks' Frankenstein Junior tanzt die Kreatur hingegen eine Varieté-Nummer und kriegt ein Happy End mit Hochzeit. Der Stoff lässt unterschiedlichste Pfade offen. Del Toro entscheidet sich gegen eine radikale Neuinterpretation. Er konzipiert Frankenstein als betörende Tragödie über die Bürde, eigenständig leben und Sinn stiften zu müssen.
Mitgefühl und Abscheu vor den Taten der Kreatur sind in Mary Shelleys Vorlage gleichermaßen angelegt und Guillermo del Toros Verfilmung positioniert sich klar auf der Seite der Monster-Liebe. Sobald er Jacob Elordis von Narben übersätes Gesicht enthüllt, gehört der Kreatur der ganze Film. Das äußert sich auch in einigen Änderungen gegenüber der Vorlage, die dem Monster mehr Unschuld schenken. Demgegenüber wird Victor Frankenstein als todbringender Egomane porträtiert, der seine Schöpfung so drangsaliert, wie es sein Vater einst mit ihm getan hat.
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Das Netflix-Monster ist irgendwie hot
Dieser Frankenstein ist außerdem verstörend heiß, was bei einem Guillermo del Toro-Film wenig verblüfft. Der Regisseur hat bereits das glitschige Ding aus dem Sumpf in einen romantischen Helden verwandelt. Jacob Elordis Kreatur präsentiert sich nun als muskulöser Hühne mit einer zarten Seele und verblüffender Ähnlichkeit zu den Engineers aus Prometheus - Dunkle Zeichen.
Je mehr intellektuelles Eigenleben im Köpfchen des Monsters floriert, desto mehr erkennt man Elordis Züge unter den Prothesen. Der Darsteller, der mit Euphoria berühmt wurde, liefert eine eindrucksvolle Performance ab, die sowohl mit ungelenken Körper-Verrenkungen als auch der gurgelnden Stimme ans Herz geht. Ist die Kreatur verstimmt, bebt das Kino förmlich unter seiner Wut, was Del Toro in ein paar wenigen Action-Szenen wirksam auskostet. Gemeinsam mit Scream-Queen Mia Goth als Victors zukünftiger Schwägerin bildet die Kreatur ein romantisches Sehnsuchtspärchen in einer Welt, die mit Geld, Krieg und grenzenlosem Ehrgeiz regiert wird. Schade nur, dass Victor F. im interessantesten Teil des Films wiederholt dazwischenfunkt.
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So düster die Welt aus Frankenstein klingt, so voluminös und farbenprächtig erscheint sie durchs Objektiv von Dan Laustsens Kamera. Prachtvolle Bauten und wunderliche Requisiten dominieren Victors Teil der Geschichte, die in mehreren Kapiteln erzählt wird. Dann übernimmt die Kreatur. Der geistlose Materialismus von Victors Forschung, seinen Apparaturen und abgetrennten Körperteilen, wird abgeworfen, wenn die Kreatur in tiefen Wäldern und schließlich der Eiswüste auf Sinnsuche geht.
Die Kreatur wird auf Schritt und Tritt von der Liebe für den Stoff und seine Bedeutung für den Künstler Del Toro verfolgt. In Teilen nimmt Frankenstein deshalb einen verbissenen, ernsten Ton an, der durch die verkopften Dialoge nicht gerade gemindert wird. Da atmet man auf, wenn Christoph Waltz als herumtollender Waffenhändler die Szenerie betritt. Andererseits ist der rücksichtslose Ernst und die ungenierte Romantisierung der Geschichte bewundernswert, erst recht wenn man jemanden wie Guillermo del Toro auf dem Regiestuhl sitzen hat. Del Toro will sein Publikum mit aller Kraft verzaubern. In Frankenstein gelingt ihm das oft genug, um über die Schwächen hinwegzusehen.
Wir haben Frankenstein beim Filmfestival in Venedig gesehen, wo das neue Werk von Guillermo del Toro seine Weltpremiere feiert. Frankenstein startet am 23. Oktober im Kino und wird am 7. November bei Netflix veröffentlicht.