Before I Wake - Manchmal ist weniger Horror mehr

12.10.2016 - 08:50 UhrVor 7 Jahren aktualisiert
Before I WakeCapelight
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In Before I Wake werden die grausigen Träume von Jacob Tremblay wahr, doch über die würden sich die Rechtsmediziner im effektiven Kammerspiel The Autopsy of Jane Doe wohl freuen.

Wie viel Horror braucht ein Horrorfilm? Before I Wake, in dem die Alpträume von Jacob Tremblay (Raum) für seine Pflegeeltern Realität werden, lässt einen gelegentlich im Sitz zusammenzucken. Im Finale allerdings legen Regisseur Mike Flanagan und Ko-Autor Jeff Howard ihre Hemmungen ab, ihren Film durch die obligatorischen Schocks aufzuputschen. Schon davor werden in den Spannungsmomenten förmlich Jump Scare-Warnungen ausgesprochen, als müsse eine vertragliche Abmachung mit dem Zuschauer erfüllt werden. Demgegenüber zwingt Trollhunter-Regisseur André Øvredal in The Autopsy of Jane Doe seine beiden Gerichtsmediziner (Emile Hirsch, Brian Cox) in ein unnachgiebiges Horrorkammerspiel, bei dem sich hinter jedem Schwenk, jedem Schnitt ein Schreckmoment zu verbergen droht. Ausatmen können wir hinterher. Oder eben in Before I Wake, der trotzdem der interessantere Film ist.

Vielleicht war ein Contact High am Werk - eine Nebenwirkung des Wartens in den gut gelaunten Schlangen beim Festival in Sitges - doch Flanagans Traueraufarbeitung in Before I Wake hätte durch mehr Horror nur verloren. Dabei spielt Jacob Tremblay einen Archetypen des Genres: den süßen kleinen Jungen, der seinen (neuen) Eltern das Leben zur Hölle macht. Mit dem Süßer-Kleiner-Junge-Namen Cody versehen, kommt er in die Pflege von Jessie (Kate Bosworth) und Mark Hobson (Thomas Jane). Beide trauern noch über den Tod ihres Sohnes Sean, da soll Cody für neue, schöne Erinnerungen sorgen. Der könnte ebenso gut mit einer blinkenden Body Count neben seinem Wuschelköpfchen herumlaufen, so auffallend ist sein Verschleiß von Pflegefamilien. Alarmglockenreif: Cody hält sich nachts mit Aufputschmitteln wach und wenn er doch wegdöst, flattern Schmetterlinge durchs Wohnzimmer. Before I Wake beschäftigt sich jedoch nicht mit den Leiden der Lepidopteraphobiker (und bietet für diese dann schon reichlich Horror). Die blitzgescheiten Hobsons merken, dass Codys Träume in der Realität Gestalt annehmen und so kommt Jessie auf eine brillante Idee. Kann Cody nicht einfach von einem lebendigen, glücklichen Sean träumen?

Das ist Missbrauch, wirft Mark seiner Frau irgendwann vor, erster Hinweis, dass eindimensionale Horror-Archetypen im Drehbuch von Before I Wake bei den entscheidenden Wendungen unerwünscht sind. Die Hobsons machen sich zunächst einmal selbst schuldig, wenn sie die Kondition ihres neuen Kindes ausnutzen, um dem verlorenen näher zu sein. Die Träume, etwa Sean, der ein Geschenk auspackt oder seine Mutter umarmt, flackern lebensecht vor den Eltern auf. So echt, dass sie die Indizien der Fälschung nicht erkennen wollen. Das Foto-Lächeln des Simulacrums scheint ihnen immer noch echter als der fremde Junge im Stockwerk darüber. Dabei hat Cody seine ganz eigene Trauerarbeit zu leisten. Als beeindruckendstes Element von Tremblays Darstellung fällt die formale, steife Höflichkeit auf, mit der Cody seiner Umgebung begegnet. Diese kann als creepy gelesen werden oder als antrainierte Umgangston eines Jungen, der zu oft neue Freundschaften schließen muss.

The Autopsy of Jane Doe

Bei drei bis vier Filmen pro Festivaltag ergeben sich automatisch bizarre oder erhellende Parallelen. Zum Beispiel zwischen dem Schauspiel in The Greasy Strangler und Salt and Fire oder den Figuren in Sieben Minuten nach Mitternacht und Inside, die beide durch einen Außenseiter wichtige Lebenshilfe erfahren; der eine durch einen grummeligen Riesenbaum, die andere durch eine psychopathische Mörderin beim Baby-Heist (effektiv, aber bitte nicht nachmachen!). Die Traumwelten von Before I Wake finden einen Ahnen in Das Böse (OT: Phantasm), Don Coscarellis Horrorklassiker von 1979, dessen restaurierte Fassung beim Festival in Sitges gezeigt wurde. Darin soll sich Mike von einer Beerdigung fernhalten und beobachtet stattdessen den Tall Man, der ganz allein einen Sarg herumtragen kann. Mehrere dumme Einbrüche ins Haus des Leichenbestatters später werden der Junge und sein großer Bruder Jody von kleinwüchsigen Zombies und der Manifestierung des Todes persönlich gejagt. Wobei die Alpträume in die Realität überzugehen scheinen, angetrieben von Mikes Furcht, nach seinen Eltern auch seinen Bruder zu verlieren.

Der Tall Man schaut leider nicht persönlich in The Autopsy of Jane Doe vorbei, dessen Titel die Geschichte vorgibt. Vater und Sohn Tilden (Brian Cox und Emile Hirsch) müssen eines Nachts die Leiche von "Jane Doe" (Olwen Catherine Kelly) einer Obduktion unterziehen, sie betasten, Abstriche machen, schließlich Schädel- und Bauchhöhle aufschneiden. Äußerlich ist sie unversehrt, innerlich fiel sie offenbar allen nur denkbaren Tötungsmethoden zum Opfer. Der wiederholte Blick auf das kalte, blasse und unangenehm seelenruhige Gesicht der Jane Doe verheißt noch vor dem ersten Radio-Knistern und flackernden Lichtern, dass die Tildens eine lange Nacht vor sich haben werden. Interessanterweise erscheint diese Einstellung des Gesichts furchteinflößender als jeder Schockmoment in The Autopsy of Jane Doe. Davon gibt es einige, die insbesondere mit Hilfe der ausgeklügelten Tongestaltung vorbereitet und ausgeführt werden (Glöckchen an den Zehen der Leichen werden nicht ohne Grund eingeführt!). An Ekelmomenten mangelt es bei diesem Titel natürlich nicht und allein die Tatsache, dass Brian Cox den Vater spielt, ließ mich intensivst um die Gesundheit seiner Figur bangen.

Pet

Das Gesicht der Jane Doe brennt sich ein, so penetrant wie es der souverän inszenierte und berechenbare Horrortrip wohl kaum verdient hat. Es brennt sich ein, weil es die Kamera magisch anzieht, und es brennt sich ein, weil der Zuschauer automatisch etwas auf diese emotionslosen Züge projiziert. Die Tote liegt nackt aufgebahrt, zwei Männer stupsen, schneiden und grabschen an ihr herum, versuchen ihr nach der letzten Ruhe ihr Geheimnis zu rauben. Irgendwann will man die Wut in dem Gesicht sehen. In einem anderen Festivalbeitrag, Pet mit Dominic Monaghan und Ksenia Solo, spielt sich ein ähnliches Mächteverhältnis in komplett anderer Umgebung ab. Monaghans Stalker sperrt Solos Figur in einen Hundekäfig ein. Er ist besessen von ihr, will sie "retten" und ahnt nicht, was er sich eingebrockt hat. Nach Colossal zerlegt Pet ebenfalls die Idee des Nice Guy-Syndroms mit den Besitzansprüchen auf die Frau der Träume. Ähnlich wie bei The Autopsy of Jane Doe und im Gegensatz zu Before I Wake opfert das Drehbuch von Pet diese interessanten Ansätze schließlich schematischen Wendungen.

Mike Flanagans Filme wie Absentia und Oculus ziehen ihre Horrorideen aus Verlusterfahrungen. Trauer und Unverständnis über den Tod der Eltern bringen Karen Gillans Kaylie in Oculus zum Bau einer tödlichen Falle, als ließe sich ein übernatürliches Phänomen fassen wie eine Maus, die mit einem Stück Käse angelockt wird. Ihre rationale "Lösung" für das Trauma ihrer Kindheit muss in Konkurrenz mit dem Bösen im Spiegel versagen, das surreale Moment übertrumpft bei Flanagan den Verstand des Horrorhelden. Dies geschieht auch in Before I Wake, der im Vergleich zu Oculus einen empathischeren Umgang mit den Entscheidungen seiner kleinen und großen Trauernden pflegt. So offenherzig wird im Film mit dem schlacksigen Alptraumschurken umgegangen, dass er schnell an Mysterium und damit Grusel verliert. Er ordnet sich mit einem Schreckmoment hier und da ins verträumte Ökosystem dieser ungleichen Trauergemeinschaft ein, ein ungebetener Untermieter, der dazu neigt, seine Mitbewohner zu verschlingen. Wartet also in Before I Wake nicht auf einen zynischen Twist. Der klassische Horror ist hier nur Mittel zum Zweck. Ohne ihn würden die Hobsons bei aller Träumerei das Leben vergessen.

Alle Beiträge zum Festival in Sitges findet ihr in meinem Blog

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