Die besten Filme - Forum Berlinale 2015
- Flieh aus meinenAugen?Dokumentarfilm von Felipe Bragança.
Dokumentarische Bilder und inszenierte Szenen verbinden sich zu drei Erzählungen über Mayga, Elias und Abidal. Die drei Flüchtlinge aus Ghana, Mali und Burkina Faso haben in Zelten im Protestcamp auf dem Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg gelebt.
(Text: Berlinale)
- DearJohn?Dokumentarfilm von Hans Scheugl.
Vor 50 Jahren hätte der Regisseur Hans Scheugl Wien verlassen und in den USA ein neues Leben beginnen können. Zu John, dem amerikanischen Freund von damals, hat er keinen Kontakt mehr. Eine Annäherung an das, was war, und das, was hätte sein können. (Text: Berlinale)
- Cyclops Observes the CelestialBodiesUS (2014)?von Ken Jacobs.
„Zyklopisches 3D ist der räumlichste Eindruck, den ein einzelnes Auge zu erzeugen in der Lage ist. Es scheint also bloß so, als gallopiere die himmlische Horde durch den Raum. Tatsächliche Tiefe bleibt verwehrt – das Gesetz will es so.“ (Ken Jacobs)
(Text: Berlinale)
- CalamityWho??Dokumentarfilm von Isabelle Prim.
Christine Boisson wird in ihrer Pariser Wohnung interviewt. Was sie erzählt und was dazu auf der Leinwand erscheint hat offensichtlich mit der legendären Calamity Jane zu tun. Doch in welcher Beziehung stehen die beiden Frauen genau zueinander?
(Text: Berlinale)
- Journey intoPost-History?1Drama von Vincent Dieutre mit Vincent Dieutre und Simon Versnel.
Ein Paar fährt nach Italien. Auf der Reise wird ihnen der Zustand ihrer Beziehung bewusst: Sie streiten, gehen getrennte Wege, überlegen sich scheiden zu lassen. Vincent Dieutre hat Viaggio in Italia neuverfilmt und seinem eigenen Leben angeglichen. Bei ihm werden Alex und Kate zu Alex und Tom, gespielt von ihm selbst und seinem Freund Simon. Dieses neue Paar bewegt sich an den gleichen Orten, erlebt Paralleles, und doch ist ihre Neapel-Erfahrung zwangsläufig eine ganz andere. Die Stadt hat sich verändert, Beziehungen werden anders geführt, Tourismus ist digitaler geworden. Während das Paar sich entfremdet, bewegt sich Vincent, der Filmemacher, mit seiner Kamera durch die Stadt. Rossellinis Film habe ihn geformt, sagt er. Wir hören seine Gedanken zu einem Remake, Notizen an sich selbst, Gespräche mit einem Copyright-Anwalt. Isabella Rossellini sagt ab. Am Ende ist in der Welt von Vincent und Simon, von Tom und Alex, die Prozession der Schlussszene einem Fußballspiel gewichen: Was dort noch heilig war, wird hier zur Ausschreitung. Aber das Wunder von Rossellinis Film bleibt und schreibt sich in die Körper der beiden Männer ein: Stimmen überlagern Bilder, Bilder überlagern Körper. (Text: Berlinale)
- Über dieJahre?81Dokumentarfilm von Nikolaus Geyrhalter.
In seiner Langzeit-Doku Über die Jahre verfolgt Nikolaus Geyrhalter die einstigen Angestellten einer Textilfabrik im Österreichischen Waldviertel über mehrere Jahre, während diese versuchen, ihr Leben und ihre Arbeit neu zu ordnen.
- Twenty-Eight Nights and APoemFR (2015)?von Akram Zaatari.
In dem Lied “Fil-Bahr” (Am Meer) wird in 28 Versionen der Mond besungen – um erst am Ende die Flüchtigkeit der Liebe auf den Punkt zu bringen. Variationen ein und desselben, jede ein Original: 28 Nights and a Poem ist eine Interpretation des Archivs des Porträtstudios Sheherazade. Der Fotograf Hashem el Madani eröffnete es in der libanesischen Stadt Saiid im Jahre 1953, nachdem er jahrelang Menschen vor ihren Läden, auf Plätzen oder am Strand fotografiert hat, ihrem Wunsch folgend, sich selbst ins Bild zu setzen. Einige der so entstandenen Posen wurden von jenen, die die Fotos sahen, übernommen und verselbstständigten sich auf diese Weise. Festgehalten wurden sie von Foto- und 8-mm-Kameras, begleitet werden sie von Liedern, abgespielt auf dem Laptop, aufgenommen mit Kassettenrekordern, und den Erzählungen el Madanis. In einer Kindersendung wird mithilfe eines vielstimmig gesungenen Liedes das Alphabet gelehrt. Die numerische Ordnung des Archivs steht kopf, weil das Heft mit den Aufzeichnungen verkehrt herum gehalten wurde. Das Archiv existiert nicht für sich, sondern wird durch ein System von Aufzeichnungs- und Übertragungstechniken in unendlichen Variationen hervorgebracht. (Text: Berlinale)
- The Siren of FasoFani?1Dokumentarfilm von Michel K. Zongo mit Rachim Naser Sanou.
In Koudougou, der drittgrößten Stadt von Burkina Faso, rottet eine Textilfabrik vor sich hin. Faso Fani wurde 2001 geschlossen. In den Archiven der Weltbank und des IWF ein wahrscheinlich längst verjährter Kollateralschaden auf einem westafrikanischen Nebenschauplatz. Michel Zongo, der in Kougoudou aufgewachsen ist, nimmt am Zaun dieser legendären Fabrik Anlauf, die Bilanz noch einmal aufzurollen: Er besucht ehemalige Arbeiter und Verwandte. Zongos Onkel etwa, der als Arbeiter einen der ersten Kühlschränke besaß, ein bewundertes Kultobjekt der Moderne dank Faso Fani. Zongo gräbt in Radio- und TV-Archiven die stolze Geschichte der Fabrik aus, in der so viel mehr als Stoffe produziert wurde. Doch als Sohn seiner Stadt hat Zongo nicht den Niedergang im Fokus, sondern entdeckt in den Höfen der Stadt Frauen, die wieder weben – und Männer, die unter Bäumen reden. Der Film ist eine Hommage an einen spezifisch afrikanischen Widerstand gegen den Wahnsinn der Globalisierung. Ein bildstarkes Dokument der Revolte tatkräftiger Frauen und wortgewandter Männer, die aus Not und Überzeugung, mit Raffinesse und Charme an einer sehr gegenwartsbezogenen Fortschritts-Ideologie ohne IWF arbeiten. (Text: Berlinale)
- FishTail?6.842Essay-Film von Nuno Leonel und Joaquim Pinto mit Pedro Moritz und Artur Carreiro.
In Rabo de Peixe auf den Azoren wird Fischfang weitgehend per Hand betrieben. Die Regisseure besuchten das Dorf erstmals zum Jahreswechsel 1998/99 und freundeten sich mit dem jungen Fischer Pedro an. Sie beschlossen, ihn im folgenden Jahr mit der Kamera zu begleiten. Der entstandene Film wurde jedoch vom Fernsehsender stark verfremdet und nur einmal gezeigt. Nun haben sie das Material neu geschnitten und daraus ein liebevolles Essay gemacht, das auf Freundschaft und Faszination beruht. Zusammen fahren sie mit Pedro aufs Meer, holen Makrelen und Schwertfische ein oder nehmen die Atmosphäre der Insel auf: Fischschwärme, Feuerwerk am Hafen, eine Prozession durch enge weiße Gassen, Körper auf schwarzem Sand. Unaufdringlich werden der Wert des Handwerks, Industrieauflagen oder das fragile Konzept des freien Menschen thematisiert. In diesem Film reicht man die Kamera gerne weiter, und auch für Seeungeheuer und Seemannsgarn gibt es genug Platz. Das grobe Korn des Materials trägt zur Schönheit der Bilder bei. Am Ende bekommt Portugal den Euro, im Off wird gesungen, und jemand wird vermisst. Eine vergangene Ära, nah und doch fern, glückliche Bilder von Dingen, die es längst nicht mehr gibt. (Text: Berlinale)
- Until I Lose MyBreath6.8532Drama von Emine Emel Balci mit Gizem Denizci und Ece Yüksel.
Die junge Halbwaise Serap arbeitet in einer Istanbuler Textilfabrik. Sie wartet sehnsüchtig darauf, dass ihr Vater, ein LKW-Fahrer, endlich sein Versprechen wahr macht und eine Wohnung für sie beide mietet. So lange soll Serap bei ihrer Schwester und deren Mann wohnen. Serap setzt alles daran, dass ihr Wunsch erfüllt wird, spart ihren Lohn für den Vater und gönnt sich selbst nichts. In diesem sturen Beharren dreht sich das übliche Eltern-Kind-Verhältnis fast um. Die Tochter ist diejenige, die sich kümmert und sorgt, die den Vater kontrolliert und ihm Geld zusteckt. Sie blendet aus, dass dem Vater immer wieder nur neue Ausreden und Lügen einfallen. Das realistischere Bild, das die Schwester vom Vater zeichnet, lässt sie nicht gelten. Obwohl die Kamera Serap stets begleitet, erfahren wir nur nach und nach etwas über sie und ihre Lebensgeschichte und wie weit sie für ihren Wunsch zu gehen bereit ist. Diese eindringliche Tochter-Vater-Geschichte erzählt damit auch etwas über den Gefühlsmix aus Sehnsucht, Bedürftigkeit, Lüge, Enttäuschung, Illusion und Wut in existenziellen menschlichen Beziehungen, der mit dem Begriff Liebe zwar fast irreführend, aber häufig bezeichnet wird. (Text: Berlinale)
- The MudWoman?111Drama von Sergio Castro San Martín mit Paola Lattus und Catalina Saavedra.
Weil sie Geld braucht, bricht Maria, Anfang 40 und alleinerziehende Mutter, zu einem Einsatz als Erntehelferin im Norden Chiles auf. Ihre Tochter Teresa lässt sie in der Obhut ihrer guten Freundin Rosa, einen Revolver steckt sie vorsorglich ein. Vor Ort trifft Maria auf ihren alten Peiniger und Vorgesetzen Raúl. Mürrisch leistet sie ihren Dienst ab und hält sich aus dem sozialen Leben der anderen Arbeiterinnen eher heraus. Nur ab und zu gelingt es der wasserstoffblonden Violeta, mit der Maria ein Zimmer teilt, sie zu einer gemeinsamen Aktion zu motivieren. Als Raúl Maria erneut Gewalt antut, erträgt sie dies stumm. Nachdem jedoch kurze Zeit später Violeta einen schweren Arbeitsunfall erleidet, beschließt Maria Rache zu üben: für die ungeklärte Vergangenheit, die brutalen Machtverhältnisse und die Ausbeutung der Frauen. Castro erzählt diese Geschichte mit einer großen Ruhe und leisen Tonalität. Gekonnt fängt die Kamera die angespannte Atmosphäre sengender Hitze und anhaltender Dürre ein, aber auch die ungerührte Schönheit der Schauplätze in der Natur. Der Verletzbarkeit der weiblichen Körper setzt der Film deren Zähigkeit entgegen und eine zärtliche Solidarität zwischen Frauen. (Text: Berlinale)
- Mar?41Drama von Dominga Sotomayor Castillo mit Lisandro Rodríguez und Andrea Strenitz.
Januar 2014 an der argentinischen Küste. Martín und seine Freundin Eli machen Urlaub in Villa Gesell, einem Badeort südlich von Buenos Aires. Die Sonne brennt – Horoskope werden verlesen, Mate-Tee geschlürft, Gitarre gespielt –, Abkühlung bieten das Meer sowie der Pool in der Ferienanlage. Strand- und Tischgespräche drehen sich um das Leben und seinen Lauf. Nachts bellen die Hunde auf der Straße und immer wieder ertönt das schrille Signal einer Autoalarmanlage. Die Beziehung der Anfang dreißigjährigen Großstädter scheint in Schieflage und dem Ende nah. Das plötzliche Auftauchen von Martíns Mutter trägt nicht zur Entspannung der Situation bei, sondern lässt die Distanz zwischen dem Paar größer werden. Die Realität bricht in die Fiktion ein, als während eines Unwetters am Strand mehrere Dutzend Touristen vom Blitz getroffen werden und drei Menschen dabei ums Leben kommen. Sotomayor seziert in Mar eindrücklich die Eigentümlichkeiten des Alltäglichen und richtet die Aufmerksamkeit auf die Zwischentöne des vermeintlich Banalen. Ausgehend von dem intimen Porträt einer Beziehungs- und Familienkonstellation zeichnet sie subtil das Bild einer Gesellschaft in kaum fassbarer Ohnmacht. (Text: Berlinale)
- Evilness?1Road Movie von Joshua Gil mit Rafael Gil Morán und Raymundo Delgado Muñoz.
Ein alter Mann vom Land plant einen Film über das Leben. Gemäß der Logik seiner Träume will er in zwölf Liedern von verlorener Liebe und einer zerrütteten Familie erzählen. Doch selbst mit dem besten Drehbuch der Welt wäre die Umsetzung schwierig, denn Schauspieler kosten Geld, und das gibt es nur in Mexiko City. Sein Film – sehen wir ihn nicht sogar gerade? Die verlassene Landschaft, der frühe Morgennebel und das unauslöschliche Feuer zeugen vom selben Gefühl der Sehnsucht. Wir hören zwar nicht alle zwölf Lieder, und einzig der Alte singt, aber jedes Lied beschwört die anderen herauf. Doch der Film handelt von mehr als nur Liebe und Sehnsucht. Er könnte genauso gut als Dokumentarfilm durchgehen, ein eindringliches Porträt vom Altern auf dem Land, der Alte und sein Freund, wie sie über die Felder ziehen, ihr Essen verzehren oder nur ihre müden Glieder ausruhen. Zugleich ist auch hier die Politik präsent, im Gerede von Hinrichtung und Korruption. Oder aber wir betrachten das Ganze als Roadmovie, in dem ein Mann im Nebel verschwindet und ein anderer sich auf den Weg in die große Stadt macht: ein wichtiges Treffen, eine spontane Demonstration, plötzlich Schüsse und dann die Abblende. (Text: Berlinale)
- Atom HeartMother7.3114Drama von Ali Ahmadzadeh mit Pegah Ahangarani und Taraneh Alidoosti.
Nach einer ausgelassenen Party verursachen Arineh und Nobahar auf dem Heimweg einen Autounfall. Ein mysteriöser Fremder namens Toofan bietet sich an, die Kosten vorzustrecken. Er wird den Weg der beiden Frauen in dieser Nacht noch häufiger kreuzen. Das Auto ist ein beliebter Schauplatz im iranischen Kino. Man bewegt sich durch den öffentlichen Raum und bleibt dennoch unter sich. Aber was passiert, wenn plötzlich ein Polizist in den Wagen steigt, wenn er DVDs vom Schwarzmarkt im Handschuhfach findet, wenn man im angeheiterten Zustand zugeben soll, dass Argo ein iranfeindlicher Film sei? Dieses Roadmovie durch das nächtliche Teheran beginnt als überdrehte Kifferkomödie, die sich über die Autoritäten lustig macht, die Kulturgeschichte der westlichen Toilette umdeutet und weitere waghalsige interkulturelle Theorien aufstellt. Doch allmählich kippt die ausgelassene Stimmung: Durch Toofan, der stets wie aus dem Nichts auftaucht, steigt die Spannung im Auto. Er treibt mit den Freundinnen ein diabolisches Spiel, das die Grenzen zum Metaphysischen überschreitet. So versponnen und gespenstisch die Handlung auch erscheint, so deutlich ist sie verankert in der Gegenwart des Iran. (Text: Berlinale)
- Koza?6.572Drama von Ivan Ostrochovský mit Peter Baláž und Zvonko Lakčevič.
Koza, die Ziege, nennen sie ihn. Seine besten Tage als Boxer hat er hinter sich. Manchmal schaut er sich seinen Kampf bei der Olympiade 1996 auf Video an. Jetzt braucht er Geld, denn seine Freundin ist schwanger. Deshalb beschließt er, noch einmal in den Ring zu steigen. Sein Boss, für den er sonst Metallschrott sammelt, begleitet ihn als eine Art Box-Impresario auf dieser Tour, die eher Leidensweg als Triumphzug ist. Kozas Körper hält das Training kaum durch, seine Kämpfe verliert er meist in der ersten Runde. Anders als das Leben geht der Film barmherzig mit seinem Protagonisten um. In diesem melancholischen Roadmovie zeigt die Kamera weniger die Boxkämpfe, sondern bleibt backstage, zeigt das unglamouröse Drumherum. Die Fahrten durch winterliche Landschaften, die Tage, an denen es nie richtig hell wird und die Cola im kalten Auto in der Flasche gefriert, das unrühmliche Ende der Kämpfe – all das zeigt der Film in exquisit kadrierten Bildern, die seinem Antihelden einen anderen Raum als den des Boxrings geben. Der slowakische Boxer Peter Baláž, der sich hier selbst spielt, ist ein Glücksfall für den Film. Den Vergleich mit anderen boxenden Filmhelden muss er keineswegs scheuen. (Text: Berlinale)
- Der FallJudas4521Historienfilm von Rabah Ameur-Zaïmeche mit Nabil Djedouani und Rabah Ameur-Zaïmeche.
In dem Drama Der Fall Judas erzählt Regisseur Rabah Ameur-Zaïmeche die Geschichte von Judas und Jesus als innige, loyale Freundschaft.
- H.6.5242Science Fiction-Film von Daniel Garcia und Rania Attieh mit Roger Robinson und Don Rittner.
Die Leben zweier Frauen ändern sich in H. schlagartig, als sich in ihrem Umfeld mysteriöse Ereignisse häufen.
- Nuclear NationII?41Dokumentarfilm von Atsushi Funahashi.
Im Jahr 2012 zeigte Atsushi Funahashi seinen Film Nuclear Nation über die Folgen der Reaktorkatastrophe in Fukushima Daiichi im März 2011. 1400 Einwohner aus dem nahegelegenen Futaba wurden in einer Schule in einem Vorort von Tokio untergebracht. Einfühlsam dokumentierte Funahashi die verzweifelte Lage der Menschen und zeigte das Ausmaß der Zerstörungen. In diesem Jahr nun präsentiert er die Fortsetzung. Der damalige Bürgermeister – ehemals aktiver Befürworter der Atomenergie und nach dem Unglück leidenschaftlicher Kämpfer für die Opfer der Katastrophe – wurde durch einen jüngeren ersetzt. Auch der unbeirrte Rinderzüchter aus dem ersten Teil taucht wieder auf. Er hatte sich der Anweisung der Regierung widersetzt, das Katastrophengebiet zu verlassen und seine Herde zu töten. Heute sieht man die Folgen der radioaktiven Verseuchung an seinen Tieren: offene Stellen und Geschwüre. Erst Ende 2014 haben die letzten Bewohner die Schule verlassen. In ihre Heimat werden sie wohl nicht zurückkehren. Die zentral betroffene Region wird zur Giftmülldeponie erklärt. Die Menschen von Futaba, die einst durch die Atomenergie zu Wohlstand kamen, zahlen nun den hohen Preis allein. (Text: Berlinale)
- FreieZeiten?22Dokumentarfilm von Janina Herhoffer.
Eine Mädchenband macht Musik. Frauen sprechen in einem Diätkurs über erfolgreiches Abnehmen durch kontrolliertes Essverhalten. Jugendliche tanzen oder sind auf Shopping-Tour. In einer Männergruppe findet ein Rollenspiel zu Konflikten am Arbeitsplatz statt. Andere machen Yoga, Klangreisen, Lockerungsübungen mit Kauderwelsch oder Lauftraining in der Sporthalle. Ein Dokumentarfilm, der den Blick auf Freizeitaktivitäten in der Gruppe richtet. Es sieht schon ziemlich verrückt aus, wenn beim Yoga alle kopfüber in den Seilen hängen. Ein Bild, das fasziniert und befremdet zugleich. In Momenten wie diesem wirken die Protagonisten wie unbekannte Wesen, die merkwürdige Rituale vollführen. Der Film sieht und hört ihnen dabei genau zu. Die fixe Kamera und die mit Bedacht gewählte Kadrierung sorgen für Klarheit und Konzentration. In der Montage gelingt es, die konkreten Beobachtungen aus wiederkehrenden Situationen in Abstraktionen zu überführen. Es setzt sich ein Bild zusammen von Freizeit als Projekt, um am eigenen Körper, am Bewusstsein, an der Performance zu feilen, mit Disziplin, spielerisch oder im Gespräch. Dass Freizeitforschung visuell so anschaulich sein kann, hätte man nicht gedacht. (Text: Berlinale)
- FlotelEuropaRS (2015)?21von Vladimir Tomic.
Als der Regisseur dieses Films noch ein Kind war, stand er vor dem “Flotel Europa” – und war begeistert, dass dieses riesige Schiff im Hafen von Kopenhagen fortan für ihn, seinen älteren Bruder und seine Mutter das neue Zuhause sein würde. Zusammen mit etwa eintausend anderen Flüchtlingen aus Ex-Jugoslawien begann für sie auf dem Schiff ein neuer Lebensabschnitt. Dem Vater schickte die Familie, wie es viele Anfang der 90er Jahre machten, “Videobriefe” in die alte Heimat. Bilder aus der Gemeinschaftsküche, von der fensterlosen Kabine, dem Fernsehsaal, von den Ausflügen mit den coolen Kumpels und einer Tanzdarbietung der unnahbaren Melisa. Durch die Montage des Materials, vor allem aber durch seine Erinnerungen an jene Zeit gelingt es Vladimir Tomic, aus Privatdokumenten, die auch für die Bebilderung von Flüchtlingselend und eine gestohlene Kindheit herhalten könnten, etwas Neues, Eigenes, Anderes zu machen. Die Perspektivverschiebung von innen nach außen macht Flotel Europa zu einem autobiografischen Film über ein Schicksal, das einen sonderbar berührt, weil es den Flüchtling aus der Opferrolle befreit – und einen schüchternen Jungen in einen sympathischen Filmstar verwandelt. (Text: Berlinale)
- Portrait of theArtistFR (2014)?von Antoine Barraud mit Géraldine Pailhas und Bertrand Bonello.
Ein chinesischer Aphorismus lautet: Der Dichter träumt, dass er ein Schmetterling sei, dabei ist es vielleicht der Schmetterling, der träumt, er sei ein Dichter geworden. In Le dos rouge sucht ein berühmter Filmemacher, von Bertrand Bonello gespielt, nach einem Bild des Unheimlichen. Eine exzentrische Kunsthistorikerin begleitet ihn durch Museen, sie betrachten und diskutieren etliche Kunstwerke. Nach und nach findet eine Verwandlung statt. Auf dem Rücken des Filmemachers tauchen rote Flecken auf. Es scheint, dass der Blick auf das Monströse den Zuschauenden verwandelt. Bonello, Opfer eines Stendhal-Syndroms, versinkt langsam in Bewunderung des erhabenen Unheimlichen. Wenn er von den Kunstwerken hypnotisiert wird, übt er eine ebenso große Faszination wie diese aus. Es ist ein Genuss, dem Blick des einen Künstlers auf den anderen zuzuschauen. Denn dieser Film ist eine vielschichtige Mise en abyme. Indem er das fiktive Porträt eines Ästheten schafft, lässt Barraud auf subtile Weise Gemälde mit seinen neu erschaffenen Bildern in Dialog treten. Künstlichkeit trifft auf Kunst, und auf der Suche nach dem idealen Monstrum entfaltet sich eine ästhetische und verspielte Verzauberung. (Text: Berlinale)
- The Days Run Away Like Wild Horses Over theHills?63Drama von Marcin Malaszczak mit Natalie Warlow und Maria-Christine Brehmer.
Als Familien ihre Geschichten noch in Fotoalben dokumentierten, folgten auf den Sommerurlaub oft die Schnappschüsse vom Weihnachtsabend, wobei die Zwischenzeit bilderlos entwischte. The Days Run Away Like Wild Horses Over the Hills entlehnt seinen Titel einer Sammlung von Gedichten, die Charles Bukowski seiner Geliebten widmete. Auch die Momentaufnahmen des Alltags in diesem Film wirken wie Gedichte: drei junge Frauen an einem Sommerabend in einer fast leeren Wohnung. Eine von ihnen versenkt sich später in die süße Gegenwart kleiner Kinder, doch nur stundenweise, als Tagesmutter. Sie schminkt ihr Gesicht, der Film wird farbig und spielt fortan in der von einem langen Leben vollgestopften Wohnung der polnischen Großmutter. Auch zu ihr kommen Freundinnen zum Reden. Ein Mann ist gestorben, sie trinken Tee, das Leben geht weiter. Es wird Herbst und Winter: Mit zärtlicher Nähe sucht der Film im privaten Kosmos nach Momenten, in denen sich die Zwischenzeit im Blick der vorbeieilenden Pferde kurz und klar konzentriert. Dabei entsteht eine berührende Illusion, so als wäre es Marcin Malaszczak gelungen, die fliehende Zeit des Lebens zwischen den “turning points” filmisch festzuhalten. (Text: Berlinale)
- DariMarusan5.651Drama von Izumi Takahashi mit Hiromasa Hirosue und Miho Ohshita.
Die traditionelle japanische Daruma-Holzpuppe trägt keine Ohren. Dari Marusan – das ist der Spitzname, den ihre Mitschüler der gehörlosen Filmheldin in Anlehnung an die Puppe gegeben haben. Den Namen hat sie sich zu eigen gemacht, die Verletzung aber kann sie nicht verwinden.
Yoshikawa (gespielt von Takahashis langjährigem Mitstreiter Hiromasa Hirosue) ist ein schwer traumatisierter Mann, der sich von anderen Menschen fernhält und mit seiner Vergangenheit gebrochen zu haben glaubt. Als die einfühlsame Dari und der schroffe, rücksichtslose Yoshikawa einander begegnen, brechen bei beiden alte Wunden auf.
Die Filme von Izumi Takahashi sind von Versehrten bevölkert, psychisch wie auch körperlich verletzten Menschen, die einander verwunden, die Verwundung sogar suchen, aber wider alle Kränkung immer auch nach Heilung streben und dazu ihren Gegenpart finden müssen.
Dari, die für eine Haustiere-Detektei verlorene Katzen aufspürt, erhält den Auftrag, einen Papagei zu finden, der Yoshikawa zwei Jahre zuvor entflogen ist. Sie wird herausbekommen müssen, was ihrem Auftraggeber in Wirklichkeit verloren gegangen ist, und dabei ihre eigene Würde finden. (Text: Berlinale) - End ofWinter?71Drama von Dae-hwan Kim mit Chang-gil Moon und Lee Young-lan.
Sung-geun, Lehrer der Cheolwon Technical High School, wird pensioniert. Die beiden Söhne und eine Schwiegertochter reisen an, um die Feierlichkeiten gemeinsam zu begehen. Bei einem Essen verkündet Sung-geun, dass er die Scheidung einreichen werde. Die Nachricht lässt die Gesichtszüge seiner Frau und Kinder einfrieren. Auch die Provinzstadt Cheolwon ist vereist, es fahren keine Busse mehr. Eine Familie sitzt im wahrsten Sinne des Wortes fest.
Auch wenn Kim Dae-hwans Regiedebüt nur während weniger Tage spielt, erzählt der Film doch eine gesamte Familiengeschichte. Die vergangenen Jahre sind in der Wohnung der Eltern präsent. In der Enge der Räume kommt zum Vorschein, dass es schon lange keine Nähe mehr zwischen ihnen gibt. Stets tritt die Kamera einen Schritt zurück, die Einstellungen werden zu präzisen Stillleben von Gefühlen, die nicht mehr da sind oder vielleicht nie vorhanden waren. Und liegt im Ausbruch des Vaters nicht auch eine utopische Bewegung? Der Vater hat sich bereits einen neuen Ort gesucht, kocht Kartoffeln, die er dort im eigenen Garten angebaut hat. Auch so kann man zum Ernährer werden – eine Familie beginnt, sich neu zu finden. (Text: Berlinale) - TheGulls?2Drama von Ella Manzheeva mit Evgeniy Sangadzhiev und Evgenia Manzhieva.
Elza lebt in einer kleinen Stadt in Kalmückien am Kaspischen Meer. Wieder geht ein Jahr zu Ende, es ist kalt und etwas Schnee liegt auf der Steppe. Als ihr Mann, der von illegalem Fischfang lebt, sie am Abend fragt, was sie getan habe, lügt Elza ihn an. Sie war nicht bei ihrer Mutter, sondern an der Bushaltestelle: Sie wollte fort. Oder – ausprobieren, wie es sich anfühlen könnte, der lieblosen kleinen Welt in unendlicher Weite zu entfliehen. Sie traut sich nicht, bleibt und verkriecht sich vor aller Augen in sich selbst. Von einer riskanten Bootstour kehrt ihr Mann nicht zurück. Man sagt in der Gegend, dass ein Fischer nur dann zurückkehrt, wenn eine Frau auf ihn warte. Und dass die Möwen die Seelen der verschollenen Fischer seien. Am Beginn einer eher überraschenden Schwangerschaft, verwitwet und allein läuft Elza immer weiter durch die Stadt, bis sie auf ihrer Gratwanderung zwischen Tradition und Gegenwart das vertraute Territorium hinter sich gelassen hat. Ella Manzheeva inszeniert in ihrem Debütfilm Landschaften, Wohnzimmer, Büros, Flure und Straßen als visuelle Zugänge zu Elzas Innenleben. Kalmückien ist in Chaiki keine Kulisse, eher ein Seelenzustand. (Text: Berlinale)