Darf man einen landesweiten, ein wenig angestaubten Klassiker wie Dinner for One nach 62 Jahren nochmal anfassen? Ich gestehe, meine erste Reaktion auf die Ankündigung einer Serienvorgeschichte zu dem berühmten Silvester-Sketch war ein ungläubiges Stöhnen. Die Neugier auf Miss Sophie - Same Procedure As Every Year ließ sich danach trotzdem nicht mehr abschütteln: Würde das eine Katastrophe oder eine Überraschung werden? Nun habe ich – hier im spoilerfreien Serien-Check – Gewissheit.
Miss Sophie: Vor Dinner for One kam ein Dinner für Fünf
Wie viele Deutsche bin ich mit dem TV-Pflichtprogramm von Dinner for One am Silvesterabend aufgewachsen. Dass der 18-minütige englische Fernsehsketch eigentlich nur in deutschsprachigen Regionen derart populär ist, erfuhr ich erst viel später. Obwohl die witzige Geschichte von Lauri Wylie bereits in den 1920ern entstand, wurde sie erst in den 1960ern wiederentdeckt und 1962 vom NDR mit Freddie Frinton als Butler und May Warden als 90-jährigem Geburtstagskind aufgezeichnet. Der Rest der zweisamen Silvesterparty schrieb Fernsehgeschichte.
Welche Vorgeschichte Miss Sophie mit ihren verstorbenen Gästen teilt, denen sie auch in ihrer Abwesenheit noch zuprostet, habe ich mich in all meinen (mittlerweile wohl 20 bis 30) Sichtungen von Dinner for One nie gefragt. Doch genau diesem Mysterium geht die Amazon-Serie nach und reist zurück ins Jahr 1918. Hier wird die junge Adelige Sophie (Alicia von Rittberg) mit dem drohenden finanziellen Ruin ihres geerbten Anwesens konfrontiert. Die einzige Lösung, um ihr Heim zu retten? Sie muss sich einen reichen Ehemann angeln.
Schaut hier den Trailer zu Miss Sophie:
So landen die wohlhabenden Junggesellen Mr. Pommeroy (Moritz Bleibtreu), Admiral von Schneider (Christoph Schechinger), Sir Toby (Jacob Matschenz) und Mr. Winterbottom (Frederick Lau) erst am Tisch und dann in einem Wettbewerb um Miss Sophies Hand –Mutproben, Quizze und Dating-Tests inklusive. Wenn man den ebenfalls antretenden Graf Szabos (Vladimir Korneev) sowie den unvermutet heimgekehrten Butler James (Kostja Ullmann) als Sophies erste (verbotene) Liebe mitzählt, sind es sogar sechs Konkurrenten (nicht "Dinner for Five", wie der internationale Titel der Amazon-Serie nahelegt).
Was folgt, ist eine amüsante Komödie der Missverständnisse mit hoher Gag-Dichte. Miss Sophie zitiert augenzwinkernd Bridgerton und Downton Abbey – vergisst im höchst britischen Ambiente aber auch nicht, dass sie eine Serie für ein deutsche Publikum ist.
Miss Sophies Figuren erobern Herzen mit Klischees und guter Laune
Selbst wenn Miss Sophie vor 107 Jahren spielt, kommt die Amazon-Serie alles andere als angestaubt daher. Kräftige Farben prägen die Bilder, Popsongs untermalen das dramatische Geschehen, die Dialoge folgen einem modernen Tonfall und wenn die junge Dame sich anhand von Porträtzeichnungen zwischen geeigneten Heiratskandidaten entscheiden muss, wird schon mal nach links oder rechts gewischt.
Ihren größten Humor findet die Serie allerdings im lustigen Spagat zwischen englischem Ambiente und deutschem Kultfaktor. Und zwar nicht nur, weil alle, die sich in der Region Potsdam auskennen, so manches "britische Schloss" wiedererkennen werden. Wenn Frederick Lau als deutschester Deutscher im Cast (der sich vor 10 Jahren noch in köstlich gebrochenem Englisch durch Victoria plapperte) jetzt einen Briten gibt und wiederholt auf die Macken von "uns Engländern" verweist, kann ich das Schmunzeln unmöglich unterdrücken. Erst recht, wenn Schokoladenminzgebäck erst nach 8 Uhr genossen werden darf.
In der Verlängerung strotzt Miss Sophie im spielfreudigen Cast bis in die Nebenrollen vor deutschen Stars in nicht-deutschen Rollen: wie Michael Kessler als pingeliger Bankvollstrecker, Ulrich Noethen als Butlervater und Wotan Wilke Möhring als englischer König Edmond.
An Moritz Bleibtreus Akzent als
französischer Champagner-Erben musste ich mich zugegebenermaßen erstmal gewöhnen.
Christoph Schechingers Auftritte als steifer deutscher Weltkriegs-Admiral, dem jedes Kompliment nach der Niederlage seines Heimatlandes "runtergeht wie Torpedofett", bieten hingegen pure Freude. Die Arbeit mit nationalen Klischees könnte hier leicht nach hinten losgehen. Ihre Stereotypen zitiert Miss Sophie jedoch mit so viel Selbstironie und Fingerspitzengefühl, dass die Witze meistens wirklich lustig (statt peinlich) daherkommen. ("Wir Deutschen lieben Quiz!", verkündet Admiral von Schneider, bevor er in bester Wer wird Millionär?-Laune fragt, ob er seinen Bruder anrufen darf.)
Dass die Amazon-Serie sich eine Neuinterpretation der ursprünglich rein britischen Tischgesellschaft erlaubt, bringt in jedem Fall frischen Wind in die Geschichte. "Ein Franzose, ein Amerikaner, ein Deutscher und ein Engländer betreten ein Schloss" mag nach dem Anfang eines schlechten Witzes klingen, trifft im Zusammenspiel mit der schlagfertig flirtenden Miss Sophie mein Zwerchfell aber im richtigen Winkel. Die Frage, wie der zuvor nie in Dinner for One erwähnte ungarische Graf Szabos in diese Vorgeschichte passen soll, erscheint zweitrangig, wenn der depressive Ungar so überzeugend nur im Unglücklichsein sein Glück finden kann.
Miss Sophie lohnt sich – nicht nur, aber vor allem für Dinner for One-Fans
Die Erzählerstimme der kaum auftretenden Zofe hätte Miss Sophie sich ruhig schenken können. Der Mord, der zwischendurch noch passiert, wäre bei so viel Charakterfreude ebenfalls gar nicht notwendig gewesen. Aber vielleicht wollten Tommy Wosch und Dominik Moser mit ihrem über weite Strecken auf Comedy und Romantik ausgelegten Drehbuch einfach alle Generationen und Zielgruppen unter den Dinner for One-Fans ansprechen und haben deshalb noch eine Krimihandlung eingebaut.
Miss Sophie knöpfte sich Dinner for One nach Farbfilmvarianten und Otto-Interpretationen natürlich nicht als erstes neu vor. Diesmal erleben wir aber nicht noch einmal "the same procedure as every year". Und das ist gut so. Natürlich müssen das ikonische Tigerfell, bestimmte Prost-Formeln wie "Cheerio!" oder ein zackiger Hackenschlag auch hier zitiert werden. Aber die Serie tappt nicht in die Falle, an einer Überdosis Nostalgie zu ersticken, sondern geht im Rahmen der Vorlage eigene Wege.
Ich erinnere mich noch, wie ich Dinner for One als Kind ganz anders angesehen habe als später im Erwachsenenalter. (Vor allem, weil ich mehr über Tigerkopf-Stolperfallen lachte und den sexuell konnotierten Abgang von James und Miss Sophie ins Schlafgemach Treppauf erst viel später verstand.) Dieses Kunststück des frischen Blicks wiederholt die Amazon-Serie nun. Ich jedenfalls ertappe mich dabei, dass ich mich auf Silvester freue – um den alteingesessenen Sketch, den ich eigentlich längst mitsprechen kann, im nächsten Durchgang vielleicht mit neuen Augen anzusehen.
Dieser Serien-Check basiert auf allen sechs Folgen von Miss Sophie, die bei Amazon Prime am 22. Dezember 2025 veröffentlicht werden.
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