Netflix hat sein besseres Don't Look Up gefunden – mit Hitler und Star Wars-Star Adam Driver

31.08.2022 - 19:02 UhrVor 1 Jahr aktualisiert
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Adam Driver sieht sich einer tödlichen Giftwolke gegenüber in Weißes Rauschen, der das Festival von Venedig eröffnet. Damit hat Netflix sein Don't Look Up für 2022 schon mal sicher.

Irgendwann in der Mitte von Weißes Rauschen fliegen Adam Driver, Greta Gerwig und ihre Patchwork-Filmfamilie in ihrem Kombi schreiend auf die Kamera zu, als hätte jemand aus Versehen Die schrillen Vier auf Achse in den Wettbewerb der Filmfestspiele von Venedig geschmuggelt. Spätestens zu diesem Zeitpunkt im neuen Netflix-Film Weißes Rauschen ist unübersehbar, dass das keine sklavische Adaption eines gefeierten Romans wird.

Stattdessen verfilmt Noah Baumbach den Klassiker von Don DeLillo aus dem Jahr 1985 für unsere krisengeplagte, covid-infizierte, von Umweltkatastrophen heimgesuchte Gegenwart. Stellt euch einen besseren und vor allem originelleren Don't Look Up vor, mit Star Wars-Darsteller Adam Driver statt Leonardo DiCaprio, einer weniger platten satirischen Abrechnung und obendrauf Hitler.

Weißes Rauschen bringt das beschauliche Leben von Adam Driver mit einer Giftwolke durcheinander

Jack Gladney (Adam Driver) hat in dem generisch betitelten College-on-the-Hill nämlich vor Jahren eine Marktlücke entdeckt: Er gründete die Hitler-Studien als erster in den Staaten, gibt Kurse in "Nazismus für Fortgeschrittene" und verhält sich bei seinen selbstverlorenen Monologen über nationalsozialistischen Massentaumel und Schäferhunde wie ein ekstatischer TV-Prediger. Gladney hat die Katastrophe des 20. Jahrhunderts zur Ware gemacht und die zahlt sich aus.

Adam Driver in Weißes Rauschen

Sein Leben könnte von dem Grauen der nationalsozialistischen Realität kaum weiter weg sein: Er führt einen kuscheligen Haushalt mit seiner vierten Ehefrau Babette (Greta Gerwig) und den vier Kindern, die sie mittlerweile angesammelt haben. Wäre da nicht ein kleines und ein großes Unglück, wobei zunächst unsicher ist, welches davon nun welche Größe annehmen wird: Nach einem Güterzug-Unfall nähert sich eine Giftwolke (klingt schlimm) und Babette schluckt heimlich Pillen (das ist auch nicht ohne).

Absurde Ideen und eine Giftwolke, die Roland Emmerich glücklich machen würde

In Sachen Katastrophen-Ranking nimmt die Giftwolke früh den ersten Platz ein. Sie ist gewaltig, blitzend, fast erwartet man, dass sich dahinter eine Alien-Invasion von Roland Emmerich versteckt. Regisseur und Autor Noah Baumbach, dessen Marriage Story 2019 in Venedig lief, kostet ihre Größe aus. Horrorfilm und Katastrophen-Thriller mischen sich auf einmal in die Satire auf das konsumorientierte Leben. Sie werden dermaßen effektiv von Baumbach inszeniert, dass man sich wünscht, ihn mal auf dem Regiestuhl von Moonfall 2 oder Conjuring 7 zu sehen. Naja, Conjuring 7 vielleicht lieber nicht.

Jack begegnet der Wolke zunächst, wie er den meisten Dingen und Menschen begegnet: Er zeredet sie mit allem, was sein Vokabular für Selbstbetrug hergibt. Sie wird schon nicht hier her gleiten, nicht in diese gut betuchte Gegend. Katastrophen, so seine Logik, passieren immer den anderen.

Daneben sieht Don't Look Up noch platter und selbstgefälliger aus

Während Don't Look Up sich zwischen Bevölkerung, Medien und Politik ein einfaches Ziel nach dem anderen aussuchte, um seinen Endzeit-Rundumschlag zu würzen, ist Weißes Rauschen eine satirische Miniatur über eine Familie, die stellvertretend für die Welt am Abgrund steht. Eine Familie, die unendlich viel (und lustig) redet, ohne etwas zu sagen.

Die Familie an ihrem Lieblingsort: dem Supermarkt

Im Gegensatz zum Netflix-Vorgänger verzichtet Weißes Rauschen auf tumbe Karikaturen mit der Charaktertiefe eines 280-Zeichen-Tweets. Dafür bietet DeLillos Romanvorlage einfach zu viel Stoff. Zwei Highlights: Don Cheadle, der die schlendernden Dialoge genüsslich aufsaugt als Jacks Kollege Murray, und der gewohnt abgedrehte Lars Eidinger. Über dessen Rolle hülle ich das Schweigen, aber, um die Poetin Miley Cyrus zu zitieren, so viel sei gesagt: Irgendwann schlägt er wie ein Wrecking Ball in den Film ein und dann ist nichts mehr, wie es war.

Wer also gerne Satiren schaut, die zu den Bekehrten predigen und unübersehbare Zielscheiben aufbauen, ist mit Don't Look Up besser beraten. Wer dagegen zusehen will, wie ein Filmemacher sich die unnachahmliche Stimme eines Autors zu eigen macht, sie genussvoll in Bilder irgendwo zwischen Tim Burton, Steven Spielberg und Baumbach selbst überführt und diskret für das 21. Jahrhundert updatet, ist mit Weißes Rauschen besser beraten.

Dieser Netflix-Film ist, wie der vorangegangene Schachtelsatz zeigt, kompliziert. So kompliziert, dass er sich manchmal in seinen Ideen verläuft. Aber während er den Ausweg sucht, bietet er mindestens die berührende Greta Gerwig, deren Babette die eigentliche, die so viel schlimmere Katastrophe durchleidet. Dafür braucht sie keine Giftwolke. Das Menschsein reicht.

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