Marvel's Jessica Jones - Unser erster Eindruck

21.11.2015 - 08:50 UhrVor 6 Jahren aktualisiert
Jessica Jones
Netflix
Jessica Jones
26
8
Wie viel Neues lässt sich dem Marvel Cinematic Universe nach 7 Jahren noch abringen? Ein Blick auf die ersten Folgen von Jessica Jones verrät: verdammt viel.

"New York may be the city that never sleeps, but it sure does sleep around."

Nach einer Viertelstunde der Serien-Seitenhieb schlechthin: Ein Zeuge filmt sein ganzes Leben mit einer Go-Pro-Kamera, aber Jessica Jones (Krysten Ritter) findet für solche Kinkerlitzchen keine Geduld. Sie reißt ihm die Kamera vom Kopf und unterbricht die kostbare Plansequenz. Bekanntlich bilden alle Beschäftigten im Marvel Cinematic Universe eine große Familie, tauschen den ganzen Tag Umarmungen aus und würden bestimmt niemals nimmer öffentlich aufeinander herumhacken. Im Falle von Marvel's Jessica Jones sollten wir also davon ausgehen, dass Autorin und Showrunnerin Melissa Rosenberg keine maliziöse Intrige gegen Marvel's Daredevil und seinen mittlerweile berühmten schnittfreien Flur-Kampf  im Schilde führt. Jessica Jones hüpft in den ersten Episoden ihrer neuen Serie trotzdem nicht wie eine Ninja-Balletttänzerin vor der Kamera herum. Die Heldin der neuen Marvel-Serie schlägt gerne mal zu, aber eher im Modus Kneipenprügelei denn Filipino Martial Arts.

Nach Marvel’s Agents of S.H.I.E.L.D., Marvel's Agent Carter und Daredevil legt Marvel also seine vierte und bisher beste Serien-Produktion innerhalb des Cinematic Universe vor. Obwohl Jessica Jones dem blinden Advokaten aus der Nachbarschaft weit mehr ähnelt als den Network-Helden, können wir Rosenbergs Serie doch als ziemlich einzigartige Vision im phasenreichen MCU beschreiben. Weiter entfernt als vom miefigen Büro der Promille-Heldin könnte der Stark Tower nämlich kaum stehen. Denn Privatdetektivin Jessica besitzt zwar Superkräfte, die benutzt sie aber erstmal nur, um auf Feuerleitern herumzukriechen und kompromittierende Fotos von Ehebrechern zu machen. Sie, die notorische Einzelgängerin, verdient ihren Lebensunterhalt damit, anderen Munition für einen Ehekrieg zu liefern. Entsprechend eröffnet die Serie mit einem Monolog in feinster Philip Marlowe-Manier: Abgeklärt, sarkastisch und lebensüberdrüssig führt uns Jessica Jones in ihren wenig heroischen Alltag ein. Dabei stellt sie uns anders als viele Genre-Kollegen vor vollendete Tatsachen. In vielerlei Hinsicht wirkt Jessica Jones schließlich wie ein Sequel, dessen Erstling wir nie zu Gesicht bekommen haben. Jessicas Versuche ihre Kräfte als Superheldin mit Kostüm für das Gute einzusetzen sind gescheitert und eine zunächst unbekannte Tragödie in jüngster Vergangenheit verfolgt sie bis in den Schlaf. Während uns die meisten filmischen Superheldenabenteuer nach dem glorreichen Sieg in den Abspann entlassen, setzt Marvel's Jessica Jones also erst hier an und erzählt die Geschichte nach der Geschichte.

Doch statt durch zerstörte Straßenblöcke bewegen wir uns als Zuschauer in der neuen Superheldenserie von Netflix durch die Seelenwelt einer Frau, die unter einer Art posttraumatischem Stresssyndrom leidet. AKA Ladies Night, die erste von 13 Episoden, können wir sozusagen als Kennenlerngespräch der kommenden Therapie verstehen. Ein Ehepaar aus Omaha sucht ihre Hilfe, um seine verschwundene Tochter Hope (Erin Moriarty) zu finden. Wie Jessica kam sie vom Lande in die Metropole. Schon bald befürchtet die Privatdetektivin das Unmögliche: Steckt der gefährliche Kilgrave (David Tennant) dahinter, der offenbar die Gedanken anderer Menschen kontrollieren kann? Jessica sah ihn sterben und doch scheint der Superbösewicht über eine Surrogatin wieder in ihr Leben zu treten.

Während David Tennants heruntergedimmter schottischer Akzent in den ersten Folgen als unscharfe Präsenz im Hintergrund für Psychoterror sorgt, schicken sich die Autoren erst einmal an, Jessicas Umfeld zu skizzieren. Denn wie es Traumata an sich haben, isolierte sich Jessica Jones nach ihrer Niederlage von ihren (wenigen) Freunden. Der drohende Schatten Kilgraves führt sie nun langsam wieder zurück zur Radiomoderatorin Trish Walker (Rachael Taylor), die ihre ganz eigene psychologische Bürde zu tragen hat. Mit dem Junkie-Nachbar Malcolm (Eka Darville), der undurchsichtigen Anwältin Jeri Hogarth (Carrie-Anne Moss) und der neuen Bekanntschaft Luke Cage (Mike Colter) warten potenzielle Vertraute an der Seitenlinie, doch zur Einführung ihrer eigenen Scooby Gang lässt sich Autorin Melissa Rosenberg erst einmal nicht hinreißen. Jessica Jones, und das hebt die Serie vielleicht am stärksten von den Marvel-Kollegen ab, verweigert sich in den ersten Folgen dem Fan-Service, der das Genre und insbesondere das MCU so unfassbar vorhersehbar gemacht hat. Jones' Laster, und hiermit ist ihre teils rücksichtslose Fixierung auf ihre eigenen Ziele eher gemeint als ihre nächtliche Verwandlung in einen Schluckspecht, entgehen der Kultivierung zur sympathischen Schrulle. Verfolgt von schrecklichen Erinnerungen dreht sich ihre Seelenleben nachvollziehbarerweise vor allem um sich selbst. Das stößt manches Mal ab, doch Krysten Ritters einfühlsame wie witzige Darbietung holt uns immer wieder zurück ins Boot.

Zu den spannendsten Fragen der ersten Folgen gehört natürlich, was es mit dem effektiv gruseligen Kilgrave auf sich hat und jeder Tennant-Fan wird nach dessen unbefriedigenden Mini-Auftritten erst einmal versucht sein, die Entzugserscheinungen durch einen gewaltigen Doctor Who-Binge zu befriedigen. Showrunnerin Rosenberg war allerdings gut beraten, Jones Innenleben den Vorrang zu geben. Parallelen der Story zum US-Diskurs über die Rape Culture und das Victim Blaming insbesondere bei Vergewaltigungen auf College-Campussen müssen schließlich trotz des Genre-Hintergrunds sensibel ausgearbeitet, statt ausgeschlachtet werden. Entsprechend beginnt Jessica Jones wie Daredevil als Noir. Doch Schatten bieten in der Serie einen allzu bequemen Schutz. Selten durften wir im Superheldengenre eine komplexere Nachtgestalt auf den Weg ins Licht begleiten als die sagenhaft eigensinnige Jessica Jones.

Habt ihr Marvel's Jessica Jones bereits gesehen?

Das könnte dich auch interessieren

Schaue jetzt Marvel's Jessica Jones

Kommentare

Aktuelle News