Seit dem Start der Multiverse-Saga mit WandaVision 2021 ist die Marvel-Maschinerie von bisher unbekannten Schwankungen betroffen. Die Diskussionen gehen nicht nur in Fan-Kreisen, sondern auch in der Filmbranche rund. Selbst Marvel-Chef Kevin Feige übte sich im Vorfeld vom Kinostart von The Fantastic Four: First Steps scheinbar selbstkritisch und räumte Probleme wie zu hohe Budgets oder zu viele Veröffentlichungen ein.
Dabei vergisst er aber, den Finger auch auf sich selbst zu zeigen. Denn neben äußeren Faktoren wie der Corona-Pandemie und den Hollywood-Streiks 2023 sind Marvels größte Probleme hausgemacht. Wir schlüsseln die Probleme der Multiverse-Saga auf.
Problem 1: Marvels Multiverse-Saga hat keine Hauptcharaktere
Das Marvel Cinematic Universe hat das serielle Erzählen aus TV-Serien und Comic-Heften auf die große Leinwand gebracht. Während den drei Phasen der Infinity-Saga hat Marvel das jeweils nächste große Kapitel des immer größer werden Erzählung mehrmals pro Jahr weitererzählt. Dabei hat die erste Phase innerhalb dieser Saga zwischen 2008 und 2012 nicht nur die Grundlage für dieses Universum gesetzt, sondern uns als Zuschauende auch mit den Hauptfiguren dieser Serie vertraut gemacht.
Ganz besonders Iron Man (Robert Downey Jr.), aber auch Thor (Chris Hemsworth) und Captain America (Chris Evans) haben die Infinity-Saga als Hauptbesetzung getragen. Deshalb konnte die aus Avengers: Infinity War und Avengers: Endgame bestehende Doppelfolge erst so gut funktionieren. Weil wir wissen wollten, wie unsere Lieblingsfiguren zusammen mit dem erweiterten Cast das Marvel-Universum retten.
Diese Hauptbesetzung fehlt der Multiverse-Saga schmerzlich. Marvel und Feige haben es verpasst, nach Endgame die nächste Generation zu etablieren und konnten auf vielversprechende Neuzugänge nicht so zurückgreifen wie gehofft. Vermutlich ist der tragische Tod von Chadwick Boseman ein Faktor, denn Black Panther hätte sicherlich das Potenzial gehabt, diese Rolle als Hauptfigur einzunehmen. Ebenso Captain Marvel (Brie Larson), deren Fortsetzung The Marvels der erste echte finanzielle Flop im MCU war. Dadurch wird sie vermutlich erstmal nicht mehr in der ersten Reihe mitspielen.
Doch wo sind die anderen Hauptfiguren? Warum sind vielversprechende Neuzugänge wie Shang-Chi (Simu Liu) oder She-Hulk (Tatiana Maslany) nahezu komplett von der MCU-Bühne verschwunden? Solchen Neuzugängen wurde in der Infinity-Saga mehr Raum zur Entfaltung der eigenen Mythologie zugestanden. Ein Tony Stark bekam innerhalb von fünf Jahren gleich drei eigene Filme spendiert, während wir vor vier Jahren das erste und letzte Lebenszeichen von Shang-Chi sahen. Vermutlich kann sich das Kino-Publikum kaum noch an sein Abenteuer erinnern, wenn er im Dezember 2026, nach mehr als fünf Jahren Abstinenz, auf die große Leinwand zurückkehrt.
Problem 2: Marvel macht leere Versprechen
Ohne echte Hauptfiguren bleibt Marvel nur der Griff in die Trickkiste. Anstatt die Multiverse Saga um eine starke Hauptbesetzung aufzubauen, die uns mit ihren Geschichten durch die größere Handlung führt, versucht es das Filmstudio mit Gimmicks.
Cameos berühmter Schauspieler:innen im Abspann uninspirierter Filme sollen uns mit Vorfreude zurück ins Kino ziehen. Das Aufgreifen alter Figuren und loser Erzählstränge soll uns nostalgisch an die Anfangstage des MCU erinnern. Die Multiverse-Integration von Marvel-Verfilmungen anderer Filmstudios soll uns an Kult-Klassiker wie Sonys Spider-Man oder Fox’ Wolverine erinnern und von den blassen MCU-Neuzugängen ablenken. Andeutungen auf zukünftige Spin-offs sollen uns mit Spekulationen füttern.
Oder anders ausgedrückt: Erinnert sich noch jemand an Charlize Theron im Abspann von Doctor Strange in the Multiverse of Madness? Musste noch jemand beim Kinobesuch von Captain America: Brave New World ständig an Der unglaubliche Hulk denken? Werden wir jemals Harry Styles als Thanos’ Bruder Eros oder Kit Harington als Black Knight oder Brett Goldstein als Hercules wiedersehen? Und was ist eigentlich aus Mahershala Alis Blade geworden, der vor der Pandemie auf der Comic-Con angekündigt wurde?
Marvels Taktik erinnert an einen Pokerspieler mit vielen Chips und verdammt schlechten Karten. In diesem Fall sind es die nur schwach etablierten Charaktere und die damit uninspirierten Geschichten. Anstatt das Blatt offenzulegen, die Niederlage einzugestehen und mit neuen Karten in ein neues Spiel zu gehen, erhöht Marvel den Einsatz ständig. Frei nach dem Motto: Solange ich den Einsatz erhöhen kann, habe ich noch nicht verloren.
Anstatt also die Multiverse Saga endlich abzuschließen und mit neuen Hauptfiguren einen Neustart zu wagen, verzettelt sich Marvel mit leeren Versprechungen und peinlichen Casting-Stunts, die zwar für eine schnelle Schlagzeile funktionieren, aber schon nach kurzer Zeit verpuffen. The Fantastic Four: First Steps hat dieses Problem erfreulicherweise erkannt und uns damit zum großen Teil verschont.
Problem 3: Marvel hat Disney+ komplett vermasselt
Als Disney+ im Jahr 2019 an den Start ging, war das Versprechen für Marvel-Fans mehr als verlockend. Mit dem Disney-eigenen Streamingdienst sollte das MCU nicht nur ins Heimkino kommen, sondern auch erstmals mit eigenen TV-Serien weiter expandieren. Figuren wie Wanda (Elizabeth Olsen), Vision (Paul Bettany), Sam Wilson (Anthony Mackie), Loki (Tom Hiddleston) und Hawkeye (Jeremy Renner) sollten auf dem TV-Bildschirm weitermachen, wo sie auf der Kinoleinwand aufhörten.
Marvel und Kevin Feige hatten in den vergangenen elf Jahren bewiesen, dass sie serielles Erzählen gemeistert haben. Diese Erfahrungen sollten also nun in Serien fließen. Das Ergebnis ist nach fast fünf Jahren allerdings ernüchternd.
Auch in diesem Fall hat Marvel ein echtes Problem, wenn es um die Entwicklung von Charakteren geht. Mehr noch als die großen Blockbuster sind Serien auf ihre Figuren angewiesen. Erst diese machen sie nicht nur sehenswert, sondern auch ihre Erzählungen, Handlungen und Beziehungen die Figuren liebenswert. Stattdessen hat Marvel einfach die altbekannte Blockbuster-Formel in die Länge gezogen und als Miniserie in die Mediathek von Disney+ gekippt.
Statt fokussierter Charakterstudien haben wir oft langweilige Events bekommen. Was bei WandaVision durch das Spiel mit dem Medium und die tragische Geschichte noch vielversprechend startete, hatte sich spätestens bei Secret Invasion zur völlig überproduzierten Belanglosigkeit entwickelt. Während ich bei Serien wie The Bear mit den Hauptfiguren mitleide und die besten Folgen als Kammerspiel im Vorgarten um einen emotionalen Streit verankert sind, explodiert bei Marvel zwar ganz viel auf dem Bildschirm, aber für die Figuren steht emotional nichts auf dem Spiel.
So funktioniert das Fernsehen einfach nicht.
Dass Marvel entweder keine Ahnung von oder kein Interesse an TV-Serien hat, zeigt sich außerdem am Miniserien-Format. Anstatt also Charaktere mehrere Jahre in weiteren Staffeln so eng wie möglich zu begleiten, mit ihnen zu leben, zu leiden und zu wachsen, wirft uns Marvel bisher fast ausschließlich Miniserien vor die Füße.
Fast noch schlimmer: Anstatt echte Hits wie WandaVision weiter auszubauen, erhalten einzelne Figuren eigene Spin-offs. Kathryn Hahns Agatha war eine der größten Stärken der gesamten Serie. Anstatt mit einer 2. Staffel weiterzumachen, hat Marvel ihr einen eigenen Ableger verpasst, der zwar ebenfalls stark erzählt ist, aber keine Konsequenzen für die Hauptserie hat. Und anstatt dort weiterzuerzählen, bekommen wir bald ein weiteres Spin-off rund um Vision.
Hoffen auf das Beste bei Marvel: Avengers Assemble!
Marvel hat sich also gehörig verzettelt, pokert einfach immer weiter und setzt nun alles auf altbekannte Karten: Robert Downey Jr. tritt als Doctor Doom in den nächsten beiden Avengers-Filmen, Avengers: Doomsday und Avengers: Secret Wars, auf, die von den Russo-Brüdern inszeniert werden und an alte Marvel-Erfolge anknüpfen sollen. Dazwischen schwingt sich Spider-Man (Tom Holland) mit Spider-Man: Brand New Day zurück ins Kino und soll den Mega-Erfolg von Spider-Man: No Way Home fortsetzen.
Hoffentlich hört damit endlich diese Verzettelung und Verwurschtelung auf und man besinnt sich wieder auf die alten Stärken: Interessante Figuren, die zusammen noch besser die Welt retten können als allein. Marvel hat in der Vergangenheit gezeigt, dass das Studio am besten funktioniert, wenn es sich aus der Underdog-Position heraus beweisen muss. In diesem Sinne: Avengers Assemble!