Seit diesem Freitag streamt bei Netflix Guillermo del Toros Frankenstein mit Oscar Isaac und Jacob Elordi. Auf den ersten Blick scheint sich der Science-Fiction-Film mit der eisigen Rahmenhandlung recht nah an der Romanvorlage von Mary Shelley zu halten.
Gerade im Finale des Films ist die Ähnlichkeit zwischen Buch und Film allerdings trügerisch. Am Ende von Frankenstein gibt del Toro der Geschichte mit ein paar Änderungen seinen eigenen Spin. Ein Zitat von Lord Byron rundet seine persönliche Interpretation von Frankenstein ab.
Spoiler zum Film sind im folgenden erklärenden Artikel über das Ende von Frankenstein vorprogrammiert.
Das Ende von Frankenstein erklärt: Ein Detail verändert alles im Vergleich zur Buchvorlage
Frankenstein beginnt im ewigen Eis, wo eine dänische Expedition zum Nordpol den schwer verletzten Victor Frankenstein (Oscar Isaac) aufgabelt. Und der Film endet an diesem Fleck. In der Zwischenzeit erzählt Victor, wie er die Kreatur (Jacob Elordi) erschuf und versuchte, sie zu töten. Anders als im Buch besitzt die Kreatur übernatürliche Heilungskräfte. Sie kann nicht sterben. Das ist eine entscheidende Abzweigung, die Guillermo del Toro nimmt. Aber erstmal zurück zur Geschichte.
Nach der Zerstörung des Laboratoriums trennen sich die Wege von Kreatur und Schöpfer. "Vater" und "Sohn" treffen sich erst am Tag der Hochzeit von Elizabeth (Mia Goth) und Victors Bruder William (Felix Kammerer) wieder, als die Kreatur in den Gemächern ihres Schöpfers auftaucht und verlangt, dass Victor ihm eine "Gefährtin" schafft:
Ich kann nicht sterben! Und ich kann nicht leben. Allein.
Bei der folgenden Auseinandersetzung sterben sowohl William als auch Elizabeth, wobei besonders Victor an der Eskalation Schuld trägt. Er jagt daraufhin die Kreatur bis in den hohen Norden. Beim Versuch, sie mit Dynamit zu zerstören, wird Victor schwer verletzt. In der Kajüte des Kapitäns treffen sie sich ein letztes Mal.
Anders als in der Vorlage: Die Bedeutung von Victor Frankensteins letztem Satz
Es kommt zu einer gefühlvollen Aussprache zwischen den beiden. Victor liegt im Sterben und bittet seinen "Sohn" um Vergebung für seine zerstörerischen Taten. Er erklärt:
Mein Vater gab mir diesen Namen, er erfüllte sich nicht. Bitte gib ihm diese Bedeutung wieder, in dem du ihn sagst wie zu Beginn, als er dir die Welt bedeutete.
"Victor" stammt aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie Sieger oder Eroberer. Ihm mag ein wissenschaftlicher Triumph gelungen sein, in jeder anderen Hinsicht ist er der Verlierer der Geschichte – vor allem, was die Meisterung seiner eigenen Sünden angeht. Sein Egoismus hat eine Schneise aus Tod und Zerstörung zurückgelassen. Mit diesen Sätzen zeigt sich Victor einsichtig.
Victor, ich vergebe dir.
Die Kreatur vergibt ihrem Schöpfer (dessen Sünden) und küsst ihn auf die Stirn. Diesen Moment gibt es so nicht im Roman von Mary Shelley. Hier weicht del Toro erneut an entscheidender Stelle ab. Im Buch stirbt Victor auf dem Schiff, ohne sich mit seiner Schöpfung ausgesprochen zu haben.
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Noch eine Abweichung: Die Kreatur lebt am Ende von Frankenstein
Auch das Schicksal der Kreatur unterscheidet sich bei del Toro, obwohl sie in Buch und Film ins hohe Eis geht. In der Vorlage trauert sie über den Tod ihres Schöpfers und verlässt das Schiff mit der Absicht, sich auf einem Scheiterhaufen zu verbrennen.
Die Kreatur des Films kann nicht so enden wie jene im Buch. Sie ist unsterblich. Nach dem Gespräch mit Frankenstein akzeptiert sie ihr Dasein. Die Kreatur geht einem Sonnenaufgang entgegen, sie wird leben. Abgerundet wird dieser tragische, aber auch optimistische Schluss von einem Zitat.
Das Zitat von Lord Byron passt perfekt zu del Toros Frankenstein-Vision
Das Zitat vor dem Abspann von Frankenstein geht auf den britischen Dichter Lord Byron zurück, ein Bekannter von Mary Shelley, der mit der Entstehung ihres Werks verbandelt ist. Mary Shelley entwickelte die Idee für ihren 1818 erschienenen Roman nämlich bei einem Aufenthalt in Byrons Villa am Genfer See. Das Zitat lautet:
And Thus the Heart Will Break, Yet Brokenly Live On.
Und auf Deutsch:
Und so bricht das Herz, doch lebt's gebrochen weiter.
Der Satz entstammt Byrons Versepos Childe Harold’s Pilgrimage, das zwischen 1812 und 1818 herausgegeben wurde. Darin reist ein junger Mann durch Europa und trifft zwischen der Schönheit der Natur auf die verheerenden Folgen der napoleonischen Kriege.
Das Werk enthielt eines der frühen Beispiele für einen düsteren Heldentypus der romantischen Literatur. Diese Helden haben alles andere als eine weiße Weste und sie blicken mit einer Mischung aus Melancholie und Zynismus auf ihre Umwelt. Wer will, kann in dieser Beschreibung sowohl del Toros Frankenstein als auch die Kreatur erkennen.
Guillermo del Toro erklärt die Bedeutung des Zitats: Das Leben nach dem Krieg
Die Bedeutung des Zitats kann niemand besser erklären als der Regisseur, der es gewählt hat. Im Interview mit Wired wurde Guillermo del Toro danach gefragt:
Einer der Stränge, der meiner Meinung nach [im Roman] fehlte, aber sehr präsent war [für Shelley und Byron], war der Krieg. Im Grunde genommen ist das Metronom ihres Lebens in vielerlei Hinsicht in den Napoleonischen Kriegen zu sehen, und das ist Teil von Byrons Gedicht über Waterloo.
Wohl auch deswegen spielt die Filmversion überwiegend in den 1850er Jahren. Es gibt mehrere Bezüge zum Krimkrieg (1853 bis 1856). Dieser gilt wegen neuer Waffentechniken als erster "moderner" Krieg der Geschichte. Dabei entsteht eine Parallele zwischen Victors Experimenten und dem todbringenden, technologischen Fortschritt des Krieges. Frankenstein kreiert sein "Monster" dank des Geldes eines Waffenhändlers, also eines Kriegsgewinnlers, und mithilfe der Leichenteile von Gefallenen. So erklärt del Toro das Zitat am Ende von Frankenstein:
Es gibt keine bessere Art, auszudrücken, worum es in dem Film geht, als mit diesem Zitat. Das kommt von einer sehr persönlichen Erfahrung für mich. Die Tatsache, dass dir das Herz gebrochen wird, du pulverisiert wirst und die Sonne wieder aufgeht, und du wirst weiterleben müssen.
Man kann die Geschichte der Kreatur als persönlichen Leidensweg lesen, aber sie ebenso als Geschöpf des Krieges (lies: Todes) interpretieren. So oder so: Die Kreatur lässt die Zerstörung hinter sich. Am Ende des düsteren Science-Fiction-Abenteuers siegt die Güte. Der Kapitän lässt die Kreatur davonziehen. Sie befreit das Schiff selbstlos aus dem Packeis und beginnt ein neues Leben.