Berlinale 2018 - Keine Sorge, Weglaufen geht nicht

15.02.2018 - 10:05 UhrVor 6 Jahren aktualisiert
Gut gelaunt in die Festival-Kälte: Don't worry, weglaufen geht nicht
NFP/Filmwelt
Gut gelaunt in die Festival-Kälte: Don't worry, weglaufen geht nicht
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Wes Andersons haariger Animationsfilm Isle of Dogs eröffnet heute die Berlinale 2018, und im Festivaltagebuch blicke ich voraus auf die kommende Woche.

Weglaufen geht nicht, wurde einem erst einmal die orangene Leine übergeworfen und klappert das blutrote Plastikkärtchen unter dem Wintermantel. Die Akkreditierungen werden verteilt, die Ticketschalter sind geöffnet und aus dem Radio webt Dieter Kosslicks Stimme sich morgens in den geschäftigen Tonteppich zwischen Wasserkocher, Zahnbürste und Brotmesser. Die Berlinale 2018 ist schon in vollem Gang, bevor der rote Teppich offiziell eröffnet wurde. Die 68. Ausgabe der Internationalen Filmfestspiele von Berlin muss dieses Jahr leider ohne alternde Superhelden oder schottische Ex-Fixer auskommen. Dafür wurde mit Isle of Dogs - Ataris Reise von Wes Anderson ein hochkarätiger Eröffnungsfilm gefunden, der sich im Wettkampf der A-Festivals sehen lassen kann. Ob die Nummer 3 auf meiner Anderson-Rangliste (hinter Paul W.S. und Paul Thomas) meine tiefsitzende Hunde-Aversion überwinden kann, erfahre ich in den nächsten Stunden und werde es natürlich hier bei moviepilot im Festivaltagebuch berichten.

Netflix als Reha-Maßnahme

Weglaufen geht nicht heißt es auch bei Gus van Sant, der mit Don't worry, weglaufen geht nicht die spärliche US-amerikanische Ausbeute im Wettbewerb anführt, die größtenteils aus Sundance-Importen besteht. Joaquin Phoenix, auf dem Sprung zum Superbösewicht Joker, sollte er sich nicht (wieder) anders entscheiden, gibt darin einen alkoholsüchtigen Cartoonisten. "Nach wahrer Begebenheit" wird der Film erzählt, wie es die Berlinale-Programmatik liebt, siehe 3 Tage in Quibéron über die späte Romy Schneider oder 7 Tage in Entebbe mit dem frisch cloverfieldisierten Daniel Brühl als Gründer der Revolutionären Zellen. Der Brasilianer José Padilha führt Regie, dessen Vita als Musterbeispiel fürs Filmeschaffen der 2010er Jahre gelten darf. Für Tropa de Elite gewann er den Goldenen Bären. Es folgte der Sprung nach Hollywood mit einem im Prinzip unmöglichen, in jedem Fall überflüssigen Remake, nämlich RoboCop von 2014. Der floppte bei Kritikern wie Zuschauern. Eine Art Rehabilitierung fand Padilha beim Streaming-Anbieter Netflix, für den er den internationalen Hit Narcos produzierte. Dem verdanken wir es, dass der Netflix-Katalog gefühlt stündlich um dokumentarisch festgehaltene Eskapaden leidlich charismatischer Drogenbarone aktualisiert wird. Nun kehrt José Padilha dahin zurück, wo alles anfing, und zwar mit einer US-amerikanisch-britischen Koproduktion.

7 Tage in Entebbe

Außerhalb des Wettbewerbs läuft Padilha diesmal. So viel Genre muss dann offenbar doch nicht sein bei der Berlinale. Damit gesellt er sich zu Steven Soderbergh, der seinen neuen Thriller Unsane - Ausgeliefert komplett auf dem iPhone gedreht hat, und nein, ich wurde nicht vertraglich verpflichtet, dies bei jeder Nennung von Unsane zu erwähnen.

Letztes Jahr meldete sich Soderbergh mit Logan Lucky aus der Regie-Auszeit zurück, in die ihm das Scheitern mehrerer großer Projekte getrieben hatte. Gekoppelt an seine Rückkehr sind Versuche, äußerlich nach "Hollywood" aussehende Filme zu drehen, diese aber unabhängig von den großen Studios zu produzieren. Hier kommt das kostengünstige wie marketingfreundliche Smartphone ins Spiel. Damit eignet sich einer der bekannteren Hollywood-Regisseure die Mittel eines Indie-Regisseurs wie Sean Baker (Tangerine L.A.) an und schließt an seine Anfänge als prägende Gestalt des amerikanischen Independent-Booms mit Sex, Lügen und Video an. Als Soderbergh-Fan bin ich auf Unsane natürlich gespannt. Als Presse-Vertreterin würdige ich an dieser Stelle schon mal seinen enormen Beitrag zum Filmstill-Pool, handelt es sich doch hier um das von ihm wieder einmal eingereichte Porträt, das die Presse nutzen soll:

Kein(?) Diktator mit Fantasie-Uniform

Der größte Blockbuster bei der Berlinale kommt aus China

Noch weniger ergiebig als beim US-amerikanischen Kino zeigt sich der Berlinale-Wettbewerb dieses Jahr leider beim südost- und ostasiatischen Kino. China wird mit dem Blockbuster-Sequel Monster Hunt 2 in die undefinierbare Berlinale Special-Reihe abgewiegelt. Dafür findet sich anderswo das Mammutwerk An Elephant Sitting Still des verstorbenen Regisseurs und Autors Hu Bo. Über die Präsenz von Hongkong schreibe ich lieber nichts, da ich keine Lust habe, meinen Laptop mit cinephilen Tränen in Brand zu stecken.

Japan findet im Wettbewerb nicht statt, eine seltsame Diskrepanz, sieht es doch in Forum, Generation und Panorama ganz anders aus. Da findet man Kiyoshi Kurosawas Endzeit-Drama Yocho (Foreboding), das ein Zusammenschnitt einer Miniserie ist, was dem Film aber kaum anzumerken ist. Isao Yukisadas Jugenddrama River's Edge eröffnet indes das Panorama und im Forum wird neben mehreren aktuellen Beiträgen des grenz- und geschmacksüberschreitenden Pink-Films gedacht. Südkorea und damit auch Hong Sang-soo ist nicht im Rennen um den Goldenen Bären, obwohl Hongs 60-Minüter Grass ein feines Pendant zu Lav Diaz' vier Stunden langem Wettbewerbsfilm In Zeiten des Teufels gewesen wäre. Der ist übrigens "nur" halb so lang wie sein letzter Berlinale-Beitrag.

Drei Festivals auf einmal

Wenn es Länder gibt, die dieses Jahr das Programm dominieren, dann womöglich Brasilien und Deutschland selbst. Mehrere knallige und berauschende Filme in den Nebensektionen widmen sich der LGBTQ-Kultur Brasiliens, etwa Tranny Fag, sowie den Skandalen auf Regierungsebene. Trotzdem bleibt das Land im Wettbewerb größtenteils außen vor, sieht man von José Padilhas Herkunft und der südamerikanischen Koproduktion The Heiresses ab. Mehr noch als in vergangenen Jahren scheinen hier zwei Festivals parallel abzulaufen, eines mit großer Neugier bezüglich dessen, was gemeinhin als "Weltkino" gilt - und der Wettbewerb. Da ist die auch offiziell laufende Woche der Kritik noch gar nicht mitgedacht, die mit Madame Hyde schon mal einen entzückend derangierten Isabelle Huppert-Altar aufbaut, in Searching for Oscar einem Kritiker nachspürt, der keine Filme mehr schaut, und mit Hagazussa den deutschen The Witch präsentiert, was ich zu 90 Prozent vernichtend meine, aber wenigstens zu 10 Prozent interessant; ein Urteil, das nicht über jeden deutschen Beitrag im Berlinale-Umfeld gefällt werden kann.

Immerhin - und das ist ein enthusiastisches, vorfreudiges "immerhin" - zeigt die Berlinale im Wettbewerb den neuen Film von Christian Petzold. Im Radio-Interview kündigte Dieter Kosslick Transit heute Morgen als "Film, der sich mit der Flüchtlingsthematik auseinandersetzt"™ an, und wenn er Petzolds Präsenz so rechtfertigen muss, dann soll er doch. Transit kommt. Berlin hat im Festival-Rennen mit Cannes und Venedig schon mal einige Meilen Vorsprung. Weglaufen geht nicht. Es geht los. Endlich.

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