Anarchos, Natalie Portman & die Stimme Gottes

28.06.2011 - 08:50 Uhr
Joseph Gordon-Levitt in Hesher
Newmarket Films
Joseph Gordon-Levitt in Hesher
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Während sich mein Schlafdefizit mit jeder Stunde im Kinosaal in die Höhe türmt, gibt’s neues vom Filmfest München zu berichten. Gestern offenbarte sich mit Hesher ein geborener Publikumsliebling.

Am Sonntag war mein Einstand beim Filmfest München 2011 mit zwei Filmen noch vergleichsweise ruhig. Dafür ging es gestern so richtig los. Der Tag begann mit einem riesigen Kaffee früh um neun vorm Kino. Um eine Runde Mitleid zu schinden: (M)Ein Filmfestival lässt sich in drei Worten zusammenfassen: Schlangestehen, Rückenschmerzen und Kaffee. Viel Kaffee. Zumindest ist das so, wenn ihr den ganzen Tag unterwegs seid, von den morgendlichen Pressevorführungen ab um neun bis hin zu den Spätvorstellungen, die bis zwei andauern können. Dazwischen oder danach werden Texte wie dieser hier geschrieben. Und bisweilen wandert sogar ein warmes Mahl in den Verdauungstrakt. Gestern reichte es dank dieses Tagesablaufs für immerhin fünf Filme.

Western sind die besseren Menschen
Das amerikanische Independent-Kino besteht nicht nur aus Wackelkameradramen über Leute, die nie arbeiten und trotzdem geile Wohnungen haben. Meek’s Cutoff von Kelly Reichardt (Wendy & Lucy) ist ein Hoffnungszeichen für die unabhängige US-Filmnation. In dem modernen Western werden die Mühen jener Siedler geschildert, die Mitte des 19. Jahrhunderts westwärts zogen. Angeführt von Meek (Bruce Greenwood) steigt in ihnen mehr und mehr der Verdacht auf, dass sie sich verlaufen haben. Obwohl Meek’s Cutoff mit bekannten Darstellern wie Michelle Williams, Paul Dano und Will Patton besetzt ist, gelingt Kelly Reichardt ein erstaunlich realistisches Porträt des Siedlerlebens mitsamt der harschen Lebensbedingungen in der Steppe. So ist der mit seinen Landschaftsaufnahmen beeindruckende Meek’s Cutoff zugleich Beobachtung und malerische Verklärung.

Der ruhigen meditierenden Schilderung von Arbeitsabläufen stand gestern das verdammt abgedrehte Sex & Crime-Drama Guilty of Romance von Sion Sono (Love Exposure) gegenüber. In dem beginnt eine Hausfrau eines Tages, ihre sexuellen Phantasien mit Fremden auszuleben, weil ihr pedantischer Ehemann auf Distanz setzt. Einen blutigen Frauenmord, böse Zauberer und zwielichtige Hexen bekommen wir ebenfalls zu sehen. Guilty of Romance ist ein Trip, der nur schwer beschrieben werden kann. Doch unter der schmierigen Oberfläche verbirgt sich eine durchdachte Auseinandersetzung mit der Ich-Werdung und der Entdeckung des eigenen Körpers. Klingt das abschreckend? Fans des asiatischen Kinos wissen, wie unterhaltsam Sion Sono philosophische Fragen verpackt. Ausdauerndes Sitzfleisch ist wie immer bei dem Regisseur angebracht.

Die Stimme Gottes
Ein Film von Sion Sono muss verdaut werden, weshalb der Festivalweg danach zum wohl kompliziertesten Restaurant führte, in dem ich jemals war. Eventuell angelehnt an das Münchner Nahverkehrssystem gab es da zwar keine Kellner (die sind so 90er!), stattdessen Chipkarten, piepende Plastikklumpen, die eher wie HiTech-Granaten aussahen und trotzdem zu wenige Tische mit Sonnenschutz. Danach hieß es wieder Filmegucken, um genau zu sein Aftershock vom chinesischen Erfolgsregisseur Xiaogang Feng (Heroes of War – Assembly). In dem wird der Bogen vom großen Erdbeben 1976 in Tangshan bis in die Gegenwart geschlagen. Fengs Film erweist sich zum einen als Geschichte einer von der Naturkatastrophe auseinander gerissenen Familien. Zum anderen ist Aftershock mit seinen Referenzen zum Aufstieg Chinas zur Wirtschaftsmacht eine geschönte Light-Version von Zhang Yimous wesentlich sehenswerterem China-Epos Leben! aus dem Jahr 1994.

Und dann war da John Malkovich. Aus Aftershocks heraus kam ich und vernahm eine allzu bekannte Stimme. Cyrus “The Virus” Grissom hatte sie gehört und auch Humma Kavula. Diese sanfte Stimme hallte also durch den Gasteig, als ich das Kino verließ. Klar, John Malkovich war als Ehrengast des Festivals eingeladen. Vielleicht war es möglich, einen Blick auf ihn zu erhaschen? Draußen auf dem roten Teppich standen die Fotografen wie bestellt und nicht abgeholt. Irgendwo musste er sein. Irgendwo nahm diese kultiviert klingende Stimme ihren Anfang. Schließlich sah ich ihn, im Bereich für Zuschauergespräche. Da mussten diese Worte doch herkommen! Aufmerksam lauschend saßen und standen die Verehrer des Darstellers da, dessen Stimme gerade irgendeine Anekdote über Con Air preisgab. Neugierig wagte ich mich heran und erblickte vorne zwischen den Scheinwerfern… zwei leere Stühle. John Malkovich, Star-Gast der Woche, gab das Interview in der Black Box im Gasteig, die ihrem Namen alle Ehre macht. Etwas surreal saßen da also dutzende Menschen schön geordnet vor zwei leeren Stühlen, um der gesichtslosen Übertragung zuzuhören.

Suche blinden Badass für’s Leben
Der echte John Malkovich kam mir also nicht ins Blickfeld. Das bietet eine wunderbar schwerfällige Überleitung zum nächsten Film, dessen Hauptfigur blind ist. Geschmackvoll, ich weiß. Wie dem auch sei, Kitao Sakurei, Regisseur des verqueren Genrefilms Aardvark ist verdammt cool. Dieser Eindruck ist darauf zurück zu führen, dass Sakurei nach dem Screening von Aardvark eine halbe Stunde den Alleinunterhalter beim Q&A spielte. Noch dazu hat er einen guten Film gedreht. Aardvark verfolgt den tatsächlich blinden Larry zunächst semi-dokumentarisch durch seinen Alltag, um ihn dann mit einem handfesten Mord an einem guten Freund zu konfrontieren. Larry entschließt sich, zum Leidwesen der Täter, herauszufinden, wer dahinter steckt. Zwar ist Aardvark keineswegs ein Neuaufguss von Blinde Wut, wandelt in der zweiten Hälfte mit seinem pumpenden Elektrosoundtrack jedoch trotzdem auf den Pfaden des 80er Jahre-Genrekinos. So ist dem coolen Sakurei ein ausgesprochen ungewöhnlicher Beweis für die Vielfältigkeit des amerikanischen Independent-Kinos gelungen.

Weniger Ausdruck der Vielseitigkeit, als weiterer Exponent des amerikanischen Mainstream-Indies ist Hesher – Der Rebell. Darin spielt Joseph Gordon-Levitt den titelgebenden Anarcho-Metalhead, der das Leben einer Familie durcheinander bringt und gleichzeitig Trauerhilfe leistet. Hesher ist mit anderen Worten wieder so eine High Concept-Dramödie mit Indie-Flair und großen Stars, die zuweilen wie eine Serie von Sketchen und allzu bemüht wirkt. Natalie Portman als unglaubwürdigste Supermarktkassiererin aller Zeiten buhlt deshalb ebenfalls um unsere Aufmerksamkeit. Amüsant sind die verbalen Entgleisungen und Sachbeschädigungen Heshers ohne Zweifel. Fans von Little Miss Sunshine dürfen beherzt zugreifen und zumindest die klatschenden und pfeifenden Zuschauer schienen von Hesher – Der Rebell begeistert zu sein.

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