Die Zahl der Festivals, für die ich nachts eine halbe Stunde allein durch den Regen einer fremden Stadt zum Hotel laufen würde, lässt sich an zwei Fingern abzählen und einer davon steht für Sitges. Das Internationale Festival des phantastischen Films in Katalonien hat sich in den vergangenen knapp 50 Jahren zu einer der wichtigsten Anlaufstellen für Fans von Fantasy, Horror und Action entwickelt. Hier laufen gesammelte Highlights und Entdeckungen aus den jüngsten Ausgaben von Cannes, Venedig und Toronto. Vergangenes Jahr war ich zum ersten Mal da, es hat geregnet, die Schuhe trieften, der Schirm versagte, doch es lohnte sich. Ab heute werde ich euch wieder aus dem Städtchen 36 Kilometer südwestlich von Barcelona berichten. Der heutige Eröffnungsfilm entspricht der Luftfeuchtigkeit an der katalanischen Küste dabei ganz hervorragend: Der Shape of Water - Das Flüstern des Wassers, in dem Guillermo del Toro von der wundersamen Beziehung einer stummen Reinigungskraft und eines Amphibien-Mannes erzählt.
Im Programm zeigt sich Sitges international. Hier läuft amerikanischer Indie-Horror wie The Endless oder der Knastthriller Brawl in Cell Block 99 mit einem vincentdonofriosierten Vince Vaughn, mexikanischer Priesterhorror (Belzebuth), britische Wanderalpträume (The Ritual), die Verfilmung eines estnischen Bestsellers (November), allein drei neue (!) Filme von Takashi Miike, eine Hong Kong-Retro, kambodschanische Action (Jailbreak) und Do-It-Yourself-Genre-Kino aus Uganda (Bad Black).
Gleichzeitig behält sich das Festival seine lokale Tönung bei. Das spanische Kino ist naturgemäß stark vertreten, darunter Neues von den beiden [REC]-Machern Jaume Balagueró und Paco Plaza. Filme aus Katalonien werden ebenso gefördert. Die Region zwischen Pyrenäen und Mittelmeer steckt bereits im Titel des Festivals; viele Filme werden mit spanischen und katalanischen Untertiteln gezeigt. Es ist eine natürliche lokale Verankerung, die Festivals dieser Größe (255 Filme, 16 Sektionen) häufig abgeht, möge auch noch so viel kulinarisches Kino vertilgt werden.
Vor einem Jahr allerdings fehlten die katalanischen Flaggen (vier rote Streifen über sonnig gelbem Grund) an den Fenstern. Wenige Tage nach dem umstrittenen Referendum um die katalanische Unabhängigkeit und dem gewaltsamen Einschreiten der spanischen Polizei, Protesten in der Region und einem Generalstreik am Dienstag, ist zaghaft Ruhe eingekehrt. Im Bus zwischen Barcelona und Sitges rauscht man vorbei an burgunderfarbenen oder gebleichten vierstöckigen Häusern, hier und da hängt die Senyera (so der Name der Flagge) oder die Estelada (erweitert um einen weißen Stern auf blauem Grund) vom Balkon, daneben ein "Sí"-Symbol. Eine spanische Flagge lässt sich auch erhaschen und zwar am Balkon rechts über einer katalanischen. Man mag sich die TV-Reporter dazu vorstellen, die diese beiden ungleichen Nachbarn porträtieren fürs spanische Äquivalent des Morgenmagazins und hofft auf eine abschließende Einstellung, in der mit einer Büchse Estrella Damm (oder doch San Miguel?) auf den Sieg von Barca über Las Palmas angestoßen wird. Oder man notiere schon mal das Setting eines Horrorfilms, in dem sich die beiden Stockwerke zusammenraufen müssen, um gegen einen zombiefizierenden Virus zu bestehen, unterbrochen von Kabbeleien über die Details der spanischen Verfassung.
Für solch einfache Lösungen bleibt nichts anderes, als auf die Fantasie des Films zurückgreifen, wenn auch die maskierten Polizisten und Spezialeinheiten in der [REC]-Serie oder El bar - Frühstück mit Leiche nach den jüngsten Bildern von den Protesten aus Katalonien an realpolitischer Aufladung hinzugewinnen, sofern sie diese nicht sowieso schon besaßen. Insofern erscheint es grotesk und befreiend gleichermaßen, sich ins Kino zu begeben, um zu sehen wie der tänzelnde Schlachter Leatherface in den Händen eines französischen Regieduos zu dem wurde, was er ist. Oder wie Frank Grillo und Iko Uwais in Beyond Skyline alles daran setzen, eine Alien-Invasion und die Erinnerung an das Original von der Erde zu tilgen. Zur Flucht in den dunklen Saal laden dieses Jahr immerhin der übernatürliche Thriller Thelma von Joachim Trier ein, der für Norwegen ins Oscarrennen geht, und Mom and Dad von der Crank-Hälfte Brian Taylor, der Nicolas Cage und Selma Blair als Eltern besetzt, und - als wäre das Casting nicht göttlich genug - diese ihre Mordlust an den Kindern ausleben lässt. Dafür wird der Weg vom Mitternachtsscreening in die heimeligen vier Wände auf Zeit gern in Kauf genommen. Nur ein paar weniger Liter Regen diesmal, das wär was!