Berlinale ist, wenn Viggo Mortensen auf einmal da steht, wo du sonst dein Fahrrad anschließt. Da läufst du hungrig aus dem Kino, willst schnell zu einem Food Truck hasten, um die tägliche Portion Spätzle mit Käse zu dir zu nehmen und plötzlich steht Aragorn vor dir. Hätte ich ihn als Fahrradfahrerin irritiert zugeklingelt, weil er gefährlich nah am Radweg stand? Vermutlich. Ist es ein wunderbar surrealer Moment, an einem derart gewöhnlichen Ort jemanden zu sehen, mit dem man so viele fantastische Erinnerungen verbindet? Mit Sicherheit.
Viggo Mortensen ist zumindest für mich ein Star, auch wenn der Spätzle-Verkäufer mit seinem Namen gar nichts anfangen konnte. Der größte Star dieses Festivals aber ist vermutlich gar nicht da.
In Kelly Reichardts First Cow - so will es diese hanebüchene Überleitung - prangt sie bereits im Titel. Eine Milchkuh ist es, die zum vielschichtigen Sinnbild des Wilden Westens wird, sowohl seiner Romantik als auch der Schattenseiten. Die Regisseurin von Certain Women hat einen ungewöhnlicher Western gedreht, in dem die Helden keine Postkutschen ausrauben, sondern heimlich ein wunderschönes Tier melken. Unbedingt sehenswert - das trifft auf First Cow zu.
3 Dinge, die ihr über First Cow von Kelly Reichardt wissen solltet:
- First Cow streicht zärtlich über die freundschaftlichen Bande zweier Männer und besticht durch seinen Humor und die genauen Beobachtungen der Gesellschaft, die wir aus so vielen Western zu kennen glauben.
- Der Film basiert auf einem Roman von Jonathan Raymond, der mit Reichardt an zahlreichen Filmen wie Meek's Cutoff und Wendy & Lucy arbeitete.
- First Cow ist einer der letzten Filme von René Auberjonois. Der Darsteller von Odo in Deep Space Nine ist im Dezember verstorben.
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First Cow bei der Berlinale: Steht ein nackter Mann im Wald
First Cow hat bereits einen langen Festival-Treck hinter sich. Alberto Barbera wollte den Film letzten Jahr in Venedig ins Programm nehmen, doch der US-Indie-Verleih A24 wehrte sich laut Barbera dagegen. Stattdessen feierte der Film in Telluride Premiere, also in einer regelrechten Herde von Oscar-Kandidaten.
Das war im September. Nächste Station der Odyssee war das New York Film Festival und jetzt, ein halbes Jahr später, schnuppert First Cow am glänzenden Fell des Goldenen Bären. Die Aufnahme in den Wettbewerb zeugt zunächst einmal von großer Leidenschaft für einen Film, der im Festivalbetrieb derart wiedergekäut wurde, das von der so wichtigen Exklusivität kaum etwas übrig ist. Diese Leidenschaft ist gerechtfertigt
Der zweite Western von Kelly Reichardt nach Meek's Cutoff spielt in den 1820ern im Oregon Territory. Wie man sich etwas aufbaut in der Fremde, das verbildlicht der Film: Eines Nachts findet der Koch Cookie Figowitz (John Magaro) im Wald einen Fremden (Orion Lee). Splitterfasernackt sitzt King Lu unter den Farnen, kein Besitz, nicht einmal seine Kleidung hat er. Cookie hilft ihm und schon bald werden sich ihre Wege erneut kreuzen und ineinander flechten, bis sie nicht mehr zu trennen sind.
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Eine Freundschaft entwickelt sich und auch ein Geschäft. Was fehlt den Trappern in den Wäldern, wenn nicht etwas Süße in ihrem Leben? Das warme Gefühl von zu Hause im Bauch? Beide gehen ans Backen, allerdings gibt es nur eine (erste!) Kuh in dem Territorium. Und die gehört nicht ihnen.
Als Western setzt First Cow die Lupe auf das Genre
In den wunderschönen Panoramen vieler Western fand das Rind vor allem in der Masse statt. Rinder verbildlichten in Filmen wie Red River das Ankommen der Siedler, die von einem Kontinent zum anderen gezogen waren, um diesen mit Pferden zu durchqueren. Sie verkörperten die gesicherte materielle Existenz innerhalb der ideellen, also das Überleben in der Realität der U.S. of A.
In First Cow dagegen herrscht Reduktion, sowohl inhaltlich als auch visuell. Die epischen Landschaften werden durch dichte Wälder ersetzt, eingefangen, wie schon bei Meek's Cutoff, im Academy-Format. Dem Gestus von Erhabenheit, Eroberung und Besitz, der Schwenks über Monument Valley und Co. innewohnt, setzen Reichardt und Kameramann Christopher Blauvelt einen der Eingliederung entgegen.
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Cookie und King Lu müssen sich zwischen Farnen und Bäumen etwas aufbauen oder weiterziehen. Sie werden dieser Welt nicht habhaft, sondern ein Teil von ihr. Zentrum dieser Welt ist die Kuh.
First Cow findet das Menschliche in der Kuh
Es gibt nur diese eine Kuh in der Gegend und für unsere beiden Freunde wird sie zur Grundlage ihres neuen Heims. Dafür müssen sie allerdings stehlen. Die Regeln des Marktes gebieten es. Jede Nacht melken sie die Kuh, um am nächsten Morgen ihre "Ölkuchen", frittierten Süßkram, mit einer Honig-Zimt-Glasur zu verkaufen. Sie haben ein einmaliges Produkt und um auf dem Markt zu bestehen, müssen sie die wichtigsten Mann der Gegend (Toby Jones) bestehlen.
Weit her ist es mit der Western-Romantik in First Cow also nicht. Darin ähnelt er jüngeren Genre-Kollegen wie The Sisters Brothers und Smoking Gun - Nicht jede Frau will gerettet werden (Was ist das für ein deutscher Titel!?). Wie diese ach so grenzenlose Welt des Wilden Westens funktioniert, wird im Film von Kelly Reichardt nämlich humorvoll und doch stechend gezeigt. Ganz ohne Duelle, aber mit viel Tausch und Kauf. Dafür steht auch die Kuh. Trotzdem wird die Einzigartigkeit dieses Tieres betont, aus dem hier ganze Menschenleben entspringen können.
Als Figur hat sie zwar weniger Präsenz als der Esel im König der Tierfilme, Zum Beispiel Balthasar, in ihrer symbolischen Güte bündelt sich auch ein Stück weit Humanität.
Dieses Geben findet sich in der zärtlichen Loyalität von Cookie und King Lu wieder. Gleichermaßen das, was man in der Fremde finden will, als auch das, was man finden sollte, ist die Kuh in Kelly Reichardts Film. Sie ist keine süße Requisite, sondern ein Star. Also für mich zumindest.
Habt ihr schon andere Filme von Kelly Reichardt gesehen?