Willkommen an der Borderline zum Borderline!

11.02.2017 - 08:50 UhrVor 7 Jahren aktualisiert
I don't know a teenager that doesn't profile as a sociopath.Anchor Bay/moviepilot
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Sex, Blut, perverse Phantasien und alles was sonst noch zum Erwachsenwerden dazugehört. Das alles in genialer Optik und garniert mit herrlich fiesen Put-downs. Und wenn euch das immer noch nicht reicht: John Waters. Als Pfarrer. Srsly!

Hier findet ihr jeden Samstag einen ganz besonderen Kommentar. Muss er zu einem ganz besonderen Film, einer überirdisch guten Serie, einer gottgleichen Persönlichkeit geschrieben worden sein? Nein. Was hier auf der Bühne stehen soll, ist ein Kommentar. Und der Mensch, der ihn verfasst hat. Wenn ihr also einen ganz besonderen Kommentar da draußen findet, und nicht wisst, wohin mit eurer Begeisterung: Schreibt uns!

Der Kommentar der Woche
Euch ist nach etwas Verstörendem, einem mal wirklich anderen Blick auf das, was gerne so poetisch "sexuelles Erwachen" genannt wird (aber gänzlich zu blümelig und unblutig für unsere Zwecke hier ist)? Dann hat Niotq mit seinem Kommentar zu Excision vielleicht genau das Richtige für euch. Außer vielleicht... ähm... Ihr wollt nicht zufällig Chirurgin werden, oder?

JOHN WATERS SPIELT EINEN VERDAMMTEN PFARRER. Und wider Erwarten explodiert dabei nicht einmal das Universum. Das ist vielleicht die verblüffendste Tatsache dieses, an verblüffenden Dingen alles andere als armen Debutfilmes von Richard Bates Jr., der auch noch sein eigenes Drehbuch geschrieben hat. Und insbesondere, wenn man sich ansieht, wie gekonnt das Ganze inszeniert ist, und auf wie vielen Ebenen dieser Film zu funktionieren versucht (und es zumeist auch wunderbar schafft), ist das schon sehr, sehr beeindruckend. Verblüffend eben.

Auch die restliche Wahl der Schauspielerriege ist einige Erwähnungen wert, so sorgt die tolle Hauptdarstellerin Annalynne McCord zumeist für die optische Aufwertung von US-Hochglanzserien, die bigotte wandelnde Unausstehlichkeit von Mutter ihres Filmcharakters gibt die ehemalige skandalträchtige Pornodarstellerin Traci Lords, Malcolm McDowell ist ein Mathematiklehrer, und Jeremy Sumpter hatte sich das mit der großen Karriere vielleicht auch ein bisschen anders vorgestellt, nachdem er mit seiner halbnackten "Peter Pan"-Interpretation vor etlichen Jahren so viele Mädchenherzen für sich gewinnen konnte.

Dieses illustre Kabinett führt uns durch die Geschichte des soziopathischen Teenagers Pauline an der Borderline zum Borderline, der es fast schon zu genießen scheint, überall anzuecken, wo er nur kann. Von der Mutter wird sie verachtet, vom Vater ist auch nicht viel zu erwarten, nur die an Mukoviszidose - die Lungenkrankheit, bei der nach und nach alles verschleimt - erkrankte Schwester hält zu ihr. Eigentlich möchte Pauline ja Chirurgin werden, aber daran glaubt niemand mehr so richtig. Die Provokationen von ihrer Seite werden immer radikaler und münden schließlich in einem etwas verstörenden Finale, das auf die ständigen meist sexuell konnotierten Fantasie- und Traumsequenzen der Protagonistin, die sich wunderbar einfügen, doch noch einiges draufsetzt. Ich verrate hier WEIT weniger als der DVD-Klappentext, der den abschließenden Twist völlig ungeniert ausplaudert. Bitte nicht lesen.

Ich freue mich sehr, dass nicht nur mir deutliche Parallelen zu Lucky McKees Debutfilm May aufgefallen sind, in dem sich eine vereinsamte junge Frau ihren Traummann aus Körperteilen ihrer Mordopfer zusammensetzt. Auch dieser funktionierte auf mehreren Ebenen, ganz ähnlich wie Excision, als klassischer Horrorfilm, als drastisches Drama über eine einsame Seele, die zu unorthodoxen Methoden greift, dieser Einsamkeit ein Ende zu setzen, und auch als Komödie - nur waren es bei May eher satirische Anflüge, die Teeniefilmklischees durch den Kakao zogen, wohingegen Excision über einen wirklich erfrischenden, wirksamen Dialogwitz verfügt, insbesondere, wenn Pauline ihre Mutter zum wiederholten Male mit ihren lakonischen Kommentaren verbal überrumpelt.

Gewagte Theorie: Neben all dem ist Excision aber möglicherweise auch noch ein bewusst gehörig überzeichnetes, aber vielleicht auch ein wenig zum Nachdenken anregendes Teenagerporträt. Gerade bei Paulines bereits angesprochenen sexuellen Fantasien, die eine österreichische Filmseite höflich als "nicht wirklich mehrheitsfähig" beschrieb, fragt man sich, ob derlei wirre Gedanken an der Grenze zur Perversion (gut, gelegentlich auch schwer drüber) nicht ein wenig häufiger beim durchschnittlichen Jugendlichen in der westlichen Welt auftauchen - man bedenke nur all die hormonellen und emotionalen Irrungen und Wirrungen so einer Zeit - als manch einer meinen möchte. Ich mag mich ansonsten gar nicht lange mit Realismusfragen aufhalten, da Bates seinen Schwerpunkt wohl eher nicht darauf gelegt hat, ein glaubhaftes Psychogramm zu erschaffen, aber das wären meine zwei Cent dazu.

"Excision" ist ein beeindruckendes Regiedebut, das optisch außergewöhnlich daherkommt und die für mich genau richtige Ladung Shock Value mit überwiegend herrlichem Humor verbunden und obendrein noch ein gelungen konsequentes Ende bereitgehalten hat. Hat meinen Geschmack getroffen.

Den Originalkommentar findet ihr übrigens hier.

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