Vor 5 Jahren setzte Netflix seine beste Serie ab – fassungslose Fans hielten es für einen Trick

30.08.2024 - 09:00 UhrVor 5 Monaten aktualisiert
The OANetflix
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Netflix ist berüchtigt dafür, viele seiner Formate nach spätestens zwei Staffeln einzustampfen. Nie hat das so weg getan, wie bei einem ambitionierten Mystery-Format, das eigentlich auf fünf Seasons ausgelegt war.

Was meine Lieblingsserien angeht, hatte ich oft kein großes Glück. David Lynchs Mystery-Meilenstein Twin Peaks ging nach zwei Staffeln auf der Mutter aller Cliffhanger zu Ende, der Ausnahme-Anime Die Blumen des Bösen war zu kontrovers für seine angeteaste Folge-Season, und dem britischen Verschwörungs-Thriller Utopia drehte man ebenfalls nach zwei Kapiteln frühzeitig der Saft ab.

Etwas entspannter war ich, als ich mich für das enigmatische Netflix-Format The OA von und mit Brit Marling und ihrem langjährigen Co-Creator Zal Batmanglij zu begeistern begann. Sicherlich würde man keine Serie absetzen, die der damals noch nach Identität ringende Streamer mit einem Plan für fünf Staffeln in einem Bieterkrieg erstanden hatte. Richtig?

Netflix setzte The OA nach nur zwei Staffeln ab (oder doch nicht?!)

Auch im Fall der Mystery-Serie rasselte nach zwei Staffeln, im August 2019, das Damoklesschwert der Absetzung herab. Eine Praxis, für die Netflix zu diesem Zeitpunkt bereits berüchtigt war. Dabei hatten sie nach der Rettung von Sense8 gelobt, keine unfertigen Geschichten mehr zu erzählen. Ein aus heutiger Sicht totwitziger Tweet, der so gut gealtert ist wie ein Glas frische Milch in der Sommersonne.

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Faszinierenderweise waren nicht alle Fans von der Authentizität der Absetzung überzeugt. Und ich gestehe, es gab Momente, in denen auch ich kurz ins Zweifeln kam, ob es sich dabei nicht um ein Puzzlestück im Teil einer noch viel ambitionierteren Meta-Erzählung über multidimensionale Engel und transzendentale Gemeinschaften handelt.

Um das zu erklären, muss man aber erst verstehen, was The OA ist beziehungsweise war. Lasst die Haustür auf, setzt euch im Kreis hin und lasst euch vom unsichtbaren Fluss mitnehmen!

The OA: Ein Mystery-Märchen in multiplen Dimensionen

In The OA kehrt Prairie Johnson (Marling) nach sieben Jahren des Verschwindens nach Hause zurück. Ihre Eltern schockiert nicht nur ihr unverhofftes Wiederauftauchen, sondern auch, dass sie ihr längst verlorenes Augenlicht zurückerlangt hat. Prairie besteht darauf, OA genannt zu werden und sucht nach fünf Menschen, um ihre Entführungsgeschichte zu hören ... und um ein Wunder zu vollbringen.

So macht OA die Bekanntschaft von vier problembehafteten Schülern und einer Lehrerin, denen sie nach und nach ihre Geschichte erzählt. Zuerst im Rahmen eines langen Russland-Flashbacks in ihre Kindheit, ehe ihre amerikanischen Eltern sie adoptierten. Später wird enthüllt, wie die Suche nach ihrem Vater sie in die Hände des skrupellosen Nahtod-Forschers Hap (Jason Isaacs) trieb, der sie und vier andere Testsubjekte jahrelang in seinem Kellerlabor festhielt.

Das Faszinierendste ist aber nicht Haps Forschung, für die er seine Gefangenen immer wieder in einer bizarren Maschine ertränkt, um sie über die Schwelle des Todes und zurück zu bringen. Das Faszinierende ist die Art und Weise, wie in dieser Erzählung das Reisen durch Dimensionen vonstattengehen soll, zumindest laut OA. Nicht etwa durch eine futuristische Maschine, ein sich öffnendes Tor oder einen Zauberspruch.

Die Gefangenen erhalten in ihren Träumen jeweils eine von fünf Bewegungen, die sie mit ihrem Körper vollführen. Teile davon besitzen bereits schwer greifbare Kräfte, wie die der Heilung. Kombiniert werden die exzentrischen Körperverrenkungen von Sia-Choreograph Ryan Heffington zu einer Art magischem Ausdruckstanz in andere Dimensionen. Das kann man entweder für befremdlich und bizarr oder wundervoll und originell halten. Aber ganz ehrlich: Mit Leuten, die sich nicht mit mir in fremde Welten voguen wollen, will ich gar nicht erst befreundet sein.

Die Entwicklung von The OA ist perverse Poesie vom Feinsten

Gemächlich und mysteriös spinnt die 1. Staffel ihre melancholische Geschichte mit dem Flair eines verträumten Indie-Films, denn genau aus der Ecke kommen Marling und Batmanglij. Ihr Projekt Sound Of My Voice diente sogar mehr oder weniger als filmischer Prototyp für die Serie. Hinzu kommt eine absolute Ablehnung von Zynismus und Augenzwinkern, womit man sich angenehm von großen Teilen des ironieverseuchten Mainstreams abhebt.

Diese Aufrichtigkeit funktioniert für das kreative Duo zwar nicht immer (ihre jüngste Krimi-Katastrophe A Murder at the End of the World ist der beste Beweis dafür), wirkte aber Wunder für The OA. Sie war das Öl aufs Feuer eines brennenden Fantums, das sich am Ende der 1. Staffel selbst beantworten musste, ob Prairie die Wahrheit erzählt und unsichtbarerweise in einen Dimensionssprung vollzogen hat – oder ob die Geschichte ihrer Fantasie entsprang und sie einfach gestorben ist.

Staffel 2 legt jegliche Ambivalenz ad acta. Sie spielt zur Hälfte in der zweiten Dimension, in welcher OA ihre Alternativ-Identität Nina Azarova annimmt, die nie ihren Unfall hatte, ihren Vater verlor oder von einer US-Familie adoptiert wurde. Gemeinsam macht sie sich mit einem neuen Verbündeten daran, die Rätsel eines geheimnisvollen Hauses in San Francisco zu entschlüsseln und trifft einen telepathischen Riesenoktopus, während die fünf Zuhörer:innen aus Prairies Welt versuchen, ihr mithilfe der Bewegungen zu folgen. Doch auch Hap und seine Gefangenen sind bereits gesprungen.

Mystery wird großartigerweise großgeschrieben in dieser Mystery-Serie, die es einem angenehm schwer macht, der kryptischen Handlung zu folgen. Es geht aber auch um die Integration verschiedener Identitäten sowie wechselnder Perspektiven und Beziehungskonstellationen. In ihrem New Yorker-Artikel I Don’t Want to Be the Strong Female Lead  macht Marling außerdem klar, aus welchem Grund sie an zyklischen Erzählungen statt Storys mit einem Höhepunkt interessiert ist:

Manchmal bekomme ich ein Gefühl davon, wie sie sein könnte. Eine wahrlich freie Frau. Aber wenn ich versuche, sie in die Heldenreise zu stecken, verschwindet sie aus dem Bild wie eine Fata Morgana. Sie sagt mir: Brit, die Heldenreise besteht aus Jahrhunderten narrativer Präzedenzfälle, die von Männern geschrieben wurden, um Männer zu mythologisieren. Ihr Muster lautet auslösendes Moment, aufsteigende Spannung, explosiver Höhepunkt und Dénouement. An was erinnert dich das? Und ich sage, an einen männlichen Orgasmus.

Eines der Ziele von The OA war es also, über fünf Staffeln hinweg von Joseph Campbells Heros in tausend Gestalten oder gar Aristotelischen Einheiten wegzukommen. Dass aus dieser kreisenden, subversiven Erzählung, die vielleicht mehr einer Version weiblicher Lust nachempfunden ist, ein Coitus interruptus mit frühzeitiger Serien-Ejakulation nach nur zwei Staffeln wurde, ist irgendwie auch perverse Poesie vom Feinsten.

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Aluhut aufsetzen, wir betreten Dimension 3!

Am Ende der 2. Staffel erreichen wir das mysteriöse Rosenglasfenster des Rätselhauses und erhaschen einen Blick auf die dritte Dimension, in die OA/Prairie/Nina gesprungen ist. Die Welt der nicht mehr erreichbaren Staffel 3. Wir sehen ein Set, an dem OAs neue Identität Brit heißt und mit Schauspieler Jason Isaacs eine Serie dreht. Volle Meta-Dampffahrt voraus!

Kombiniert mit dem Zitat, dass das Rätsel irgendwann IRL (im wahren Leben) weitergeht, mag man den schwurbeligen Fans verzeihen, dass sie sich auf eine in unsere Welt verlagerte Meta-Verschwörung eingelassen haben. Marling und Batmanglij haben auch nicht gerade geholfen, diesen Verdacht zu unterbinden, indem sie kryptische Instagram-Einträge abfeuerten, die in mehrere Richtungen interpretierbar waren.

Ein Post mit den Farben Yellow, Cyan, Buchstabe F und Magenta wurde etwa als You Come Find Me entschlüsselt, was Fans als Aufforderung zum OA-Auffinden in der neuen Dimension interpretierten. Als dann die neue Serie des Duos angekündigt wurde (Retreat, später umbenannt in Murder at the End of the World), schien der Fall klar: Bei dem Format muss es sich um die heimliche 3. Season von The OA handeln. Alles ist in trockenen Tüchern.

Natürlich war das nicht der Fall und nicht ein Tuch war wirklich trocken.

Mittlerweile haben selbst die eingefleischtesten OA-Fans im verschwörerischen Subreddit die Hoffnung aufgegeben und hoffen höchstens noch auf einen alternativen Abschluss, etwa in Comic-Form. Vor einigen Monaten gab Brit Marling dann ein Interview , in dem sie daran erinnerte, dass auch mein oben erwähntes, ebenfalls nach zwei Staffeln abgesetztes Twin Peaks nach über 25 Jahren Sendepause zurückkehrte.

Vielleicht lassen wir die Tür also doch noch etwas auf. Zumindest einen Spalt weit.

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