Verstörender Berlinale-Kracher: Horror-Meister entfesselt nach 10 Jahren einen hypnotischen Blutrausch

11.02.2022 - 21:30 UhrVor 2 Jahren aktualisiert
Dark Glasses
Urania Pictures – GetAway Films
Dark Glasses
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Seit zehn Jahren hat sich der Horror-Regisseur Dario Argento nicht mehr auf der großen Leinwand blicken lassen. Mit Dark Glasses meldet sich einer der Väter des italienischen Giallos eindrucksvoll im Kino zurück.

Es gibt immer wieder namhafte Filmschaffende, bei denen man sich fragt, wo sie eigentlich geblieben sind. Dario Argento ist einer von ihnen. In den 1970er und 1980er Jahren schuf der Suspiria-Regisseur einen stilprägenden Horrorfilm nach dem anderen. Angefangen bei Profondo Rosso über Tenebrae bis hin zu Terror in der Oper: Ohne Argentos Werk wäre das Subgenre des Giallo nur schwer vorstellbar.

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Schwarze Handschuhe, die sich langsam ins Bild bewegen. Weit aufgerissene Augen, die pure Angst ausstrahlen. Und ein funkelndes Messer, das eine rote Blutspur hinterlässt. Der Giallo gehört zu den markantesten Filmgenres überhaupt. Dennoch fiel es Argento schwer, im neuen Jahrtausend an seine großen Erfolg anzuschließen. Zwei Filme schienen das Ende seiner Karriere besiegelt zu haben: Giallo und Dario Argentos Dracula.

Dario Argento bringt echten Horror zur Berlinale

Seit 2012 war Argento nicht mehr im Kino präsent. Das Spätwerk des italienischen Horrormeisters ist sowohl bei der Kritik als auch beim Publikum kaum auf Gegenliebe gestoßen. Zu eigenwillig, zu abstrakt – und vor allem Lichtjahre von den atmosphärischen Meisterwerken seiner Hochphase entfernt. Mit Dark Glasses meldet er sich dafür umso beeindruckender auf der diesjährigen Berlinale zurück.

Skepsis war im Voraus durchaus angebracht. In was für einen Regisseur hat sich Argento in seiner zehnjährigen Kinopause verwandelt? Besitzt er nach den abseitigen Filmen, die er zuletzt auf die große Leinwand gebracht hat, überhaupt noch die Kraft, einen einnehmenden Bilderrausch zu inszenieren? Oder wird Dark Glasses ein unbeholfener Comeback-Versuch, der Argento endgültig in die Irrelevanz katapultiert?

Schon in den ersten Augenblicken von Dark Glasses macht der Regisseur deutlich, dass etwas Großes im Gange ist. Der Mond schiebt sich vor die Sonne und verdunkelt die Erde. Für einen kurzen Moment wirkt es, als wolle Argento sogar Roland Emmerichs Moonfall in den Schatten stellen. An hemmungsloser Zerstörungswut ist er allerdings nicht interessiert. Er sucht das Unheimliche in einem gespenstischen Rom.

Dark Glasses

Die Straßen der Metropole sind verlassen. Die Menschen versammeln sich im Park und hinter den Fenstern ihrer Wohnungen. Wie fremdgesteuert blicken sie der Sonnenfinsternis entgegen. Wenn sich alle Köpfe gen Himmel strecken, beobachtet niemand das Geschehen auf der Erde. Diesen Umstand nutzt ein Serienkiller, der es auf Prostituierte abgesehen hat. Auf das Spektakel der verdeckten Sonne folgt eine Blutfontäne sondergleichen.

Dark Glasses verstört und berührt zu gleichen Teilen

Zu den pochenden Klängen eines Synthesizers wird ein Draht gespannt – und natürlich dürfen die schwarzen Handschuhe nicht fehlen, ehe das Rot den Film übernimmt. Argento ist wieder in seinem Element. Dark Glasses ist jedoch nicht bloß ein Remix seiner altbekannten Stärken im digitalen Gewand: Sobald er die Prostituierte Diana (Ilenia Pastorelli) ins Zentrum rückt, gewinnt der Film an eigener Identität.

Auch Diana gerät ins Visier des geheimnisvollen Killers, der vor allem durch seinen großen Van auffällt, dessen Scheinwerfer sich wie die funkelnden Augen eines hungrigen Ungeheuers durch die Nacht bohren. Ohne mit der Wimper zu zucken, fährt der Killer alles über den Haufen, was ihm in den Weg kommt. Nur Diana entkommt. Als sie im Krankenhaus aufwacht, hat sich ihre Welt aber für immer verdunkelt.

Den Angriff überlebt, das Augenlicht verloren: Als wäre die Situation nicht kompliziert genug, stellt sich heraus, dass Diana bei der Verfolgung durch die nächtlichen Straßen die Eltern des jungen Chin (Xinyu Zhang) gerammt und tödlich verletzt hat. Inmitten seines Horrorthrillers beginnt Argento von der unwahrscheinlichen Beziehung zwischen zwei Menschen zu erzählen, die durch ihre Einsamkeit vereint werden.

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Für beide ist eine Welt zusammengebrochen. Jetzt müssen sie lernen, mit ihrer neuen Situation umzugehen. Obwohl Argento durch die Gestaltung seiner Bilder und den Einsatz von Musik nie auf eine unheimliche Atmosphäre verzichten möchte, schleicht sich in den nachfolgenden Passagen eine unerwartete Wärme in seinen Film. Für jede aufgeschlitzte Kehle gibt es in Dark Glasses mindestens einen berührenden Moment.

Mit Dark Glasses braucht sich Argento nicht zu verstecken

Dass Argentos Film an diesen Gegensätzen nicht zerbricht, liegt an der verträumten Grundstimmung: Mitunter fühlt es sich so an, als hätte sich die Welt mit dem Einsetzen der Sonnenfinsternis in einen wabernden Tagtraum verwandelt. Selbst wenn das Sonnenlicht zurückkehrt und Rom wieder als gemütliche Idylle erstrahlt, verschwindet das Grauen nicht aus dem Bewusstsein des Films. Es kehrt immer wieder zurück.

Vom Stadtzentrum bis zum abgelegenen Landhaus: Der Überlebenskampf in Dark Glasses erzählt ebenfalls eine Geschichte über Orte. Dadurch, dass seine Protagonistin blind ist, schenkt Argento diesen Orten besondere Aufmerksamkeit: Sei es eben noch das vertraute Apartment, das unter neuen Gesichtspunkten erkundet werden muss, oder der Gang durch einen Fluss, der sich als Eintritt in eine Hölle voller Schlangen offenbart.

Dark Glasses zeigt uns sehr viel, obwohl die Heldin der Geschichte das konkrete Grauen nur erahnen kann. Der für uns Zuschauende in schockierenden Bildern ausgestellte Horror (in der verstörendsten Szene des Films zerfetzt ein Hund das Gesicht eines Mannes) steht ununterbrochen im Kontrast zu Dianas Wahrnehmung. Mit seiner Kino-Rückkehr stellt Argento die Selbstverständlichkeit des bewegten Bilds auf die Probe.

Von einem müden Film oder dem befürchteten Unfall kann keine Rede sein. Argento nutzt die große Leinwand einmal mehr als Spannungsfläche und führt uns mit hypnotisierenden Aufnahmen durch Roms verschlungene Gassen. Auch wenn Dark Glasses kein neuer Suspiria ist, hat Argento nicht verlernt, bedrohliche Stimmungen zu inszenieren und einer spannenden Heldin bei ihrem Überlebenskampf zu folgen.

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