Vergesst Dahmer bei Netflix: Die beste True-Crime-Story seit Jahren ist eine 85-minütige Horror-Tortur mit dem FBI

21.02.2023 - 08:30 UhrVor 2 Monaten aktualisiert
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Weit abseits von Netflix-Serien wie Dahmer feiert ein Film über die Whistleblowerin Reality Winner bei der Berlinale 2023 seine Premiere und zeigt, wie aufregend True-Crime wirklich sein kann.

Dank Making a Murderer und Der Unglücksbringer: Das Leben und die Tode des Robert Durst erleben wir seit 2015 einen nie vorhergesehenen Boom an True-Crime-Geschichten. Besonders im Streaming-Bereich sind die wahren Verbrechen beliebt und werden wahlweise als Film, Serie oder Doku aufbereitet. Besonders Netflix setzt auf True-Crime und fährt regelmäßig große Erfolge damit ein. Das jüngste Beispiel: Dahmer.

Was bei der True-Crime-Masse fehlt, ist die Innovation des Genres und ein Interesse an der filmischen Form. Viele der Filme und Serien fühlen sich sehr ähnlich an. Sie setzen auf die gleichen Schock- und Enthüllungseffekte. Reality, der am Samstag seine Premiere bei der Berlinale 2023 feierte, erweist sich in Anbetracht der kreativen Dürre als willkommene Abwechslung. Hier erleben wir, was True-Crime wirklich kann.

True-Crime-Hit: Wenn die Realität das Drehbuch schreibt

Reality dreht sich um den Fall der US-amerikanische Sprachwissenschaftlerin Reality Leigh Winner, die 2017 für Schlagzeilen sorgte: Die Regierungsbeauftragte mit Top-Secret-Freigabe leakte einen vertraulichen Bericht an die Nachrichtenwebseite The Intercept, in dem es um die russische Einflussnahme auf den US-Wahlkampf 2016 ging. Am 3. Juni 2017 klopfte das FBI mit einem Durchsuchungsbefehl an ihre Haustür.

Regisseurin Tina Satter hat sich durch die Tonaufnahme des FBI gewühlt und daraus einen Film gemacht. Der Mitschnitt sowie das dazugehörige Transkript bilden jedoch nicht nur die Grundlage des Drehbuchs. Sie sind das Drehbuch. Die Geschichte entfaltet sich somit in Echtzeit. Die Schauspielenden sagen exakt die Sätze und Ähms, die von ihren realen Vorbildern an jenem schicksalhaften Tag gesprochen wurden.

Von einem konventionellen Whistleblower-Biopic à la Snowden sind wir meilenweit entfernt. Miller hat eine extrem spannende Mischform aus Spielfilm und Dokumentation geschaffen. Trotz der offenkundigen Inszenierung besitzt Reality eine hypnotisierende Unmittelbarkeit und lässt uns die einzelnen Stufen von Hausdurchsuchung und Verhör im Detail so erleben, während der Film seine Wirklichkeit ständig hinterfragt.

Euphoria-Star Sydney Sweeney brilliert als Reality Winner

Die Kombination ist befremdlich wie faszinierend. Authentizität und Künstlichkeit befinden sich im stetigen Wechsel miteinander. Nicht zuletzt sehen wir das vertraute Gesicht von Sydney Sweeney (Euphoria), die Verhalten und Worte (inklusive Aussprache) von einer real existierenden Person übernimmt. Gleiches gilt für Josh Hamilton (Eighth Grade) und Marchánt Davis (Tuscaloosa), die als die zentralen FBI-Agenten auftreten.

Satter bricht die True-Crime-Konventionen auf und geht einige Experimente auf der formalen Ebene ein. Sobald wir über geschwärzte Passagen im Transkript stolpern, verschwinden etwa die Figuren aus dem Film, ohne dass dieser eine Pause einlegt. Darüber hinaus geht Satter sehr klug mit dem Ort um: Obwohl sich fast alles vor und in einem Haus abspielt, gibt es viele (metaphorische) Räume zu entdecken.

Parallel mit der Erkundung des Ortes findet das Herantasten an die Figuren und die gesuchte Wahrheit statt. Obwohl der Fall für uns Zuschauende längst aufgeklärt ist, erweist sich die Suche nach dem Tatmotiv und die Frage, ob Winner überhaupt etwas verbrochen hat, als extrem spannendes Unterfangen. Im Grunde erleben wir die Geschichte live mit den Figuren und können ihnen beim Denken zuschauen.

In Reality wird das FBI zum unangenehmen Bösewicht

Satter, die mit Reality ihr eigenes Bühnenstück verfilmt, braucht das zugrundeliegende Material gar nicht künstlich aufzubauschen oder anzupassen. Die Tonaufnahmen erzählen bereits eine nervenaufreibende Geschichte – und das liegt vor allem an den Ermittlungsmethoden des FBI, die hier ausgestellt werden und alles andere als schmeichelhaft sind. Reality besitzt einen eindeutigen Bösewicht.

Ob die Agenten nach Vorschrift handeln oder nicht: Satters Film fühlt sich wie ein Home-Invasion-Thriller an. Mehr und mehr Wägen fahren mit rasanten Bewegungen vor, Männer mit Sonnenbrille steigen aus und bauen sich mit mächtiger Statur vor Winner auf. Einschüchternd, bedrohlich. Alle haben irgendetwas zu tun und trotzdem stolpern sie verpeilt ins Bild und wirken wie bestellt und nicht abgeholt.

Am unangenehmsten ist die Art und Weise, wie die Agenten auf Reality zugehen, wie sie mit ihr reden und wie sie Informationen transportieren. Jede Galileo-Mystery-Folge kommt trotz Werbeunterbrechung schneller zum Punkt. Die agressiv höflichen Herren des FBI bekommen es sogar hin, dass man an der Legitimität der ganzen Operation zweifelt, weil der Durchgangsbefehl lange Zeit nur erwähnt, aber nie gezeigt wird.

Eigentlich mutet das alles nach einer für Hollywood modifizierten Story an. Angefangen beim Auftritt des FBI bis hin zu dem Namen Reality Winner, der voller aufgesetzter Ironie und Doppeldeutigkeit zu stecken scheint. Schlussendlich kanalisiert Satter jedoch nur die unabsichtliche Spannung der Wirklichkeit. Das Ergebnis ist ein herausragender True-Crime-Film, der über den konkreten Fall hinaus für Bauchschmerzen sorgt.

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