Die Oscar-Verleihung gilt als Höhe- und Schlusspunkt der jährlichen
Film Awards Season, jener drei- bis viermonatigen Zeitspanne, in der
Hollywood sich ganz offen selbst genügt. Entsprechend hoch sind die
Erwartungen ans Season-Finale, auf das 2017 mit einer total engagierten Rede von Meryl Streep bei den Golden Globes und dem wundersam-wirschen Auftritt von Winona Ryder im Rahmen der SAG-Awards delirant eingestimmt wurde. Gar nicht mal ironiefreie Wortmeldungen über angebliche Oscar-Chancen von Deadpool
verwiesen im Vorfeld allerdings auch auf einen gewissen Notstand: Es
fehlt der kommenden Veranstaltung an augenscheinlich ernsthaftem
Diskussionsmaterial und Reibungsflächen, an Unerwartetem und
Unvernünftigem, an Irrsinn sowieso.
Die ausgelagerte Kontroverse um die Vergewaltigungsvorwürfe gegen Nate Parker ersparte der Academy nicht nur eine Auseinandersetzung mit dem vorschnellen Oscar-Favoriten The Birth of a Nation, sondern wurde derart hitzig entfacht, dass ihre Neuauflage im Fall von Casey Affleck ungleich weniger hohe Wellen
schlug (vielleicht gilt demnach die Unschuldsvermutung zumindest
innerhalb der Film Awards Season). Auch das bemerkenswerte Comeback von Mel Gibson
schien so bemerkenswert nicht zu sein, es wurde – wegen der
Chancenlosigkeit seines Films? – einfach zur Kenntnis genommen. Und die
historisch diversifizierte Auswahl hat es vielen Kritikern in diesem
Jahr erschwert, sich über mangelnde Oscar-Vielfalt nachvollziehbar zu
empören.
Wenig streiten lässt sich folglich über die nominierten Filme selbst, die in ihrer betont zeitdiagnostischen Ausrichtung
zwar ein politisches Profil, aber keine politischen Konturen besitzen.
Soziale Diskurse verhandeln sie übersichtlich gemacht als
Identitätsfindung (Moonlight, Lion) oder Rückgriff auf Geschichte (Hidden Figures, Hacksaw Ridge), als Familienmelodram (Fences, Manchester by the Sea) oder gewissenhaftes Genrekino (Hell or High Water, La La Land).
Sie betreiben überwiegend Agitation im erwartbaren Rahmen, finden
passende bzw. passend gemachte Bilder und Worte für
Zustandsbeschreibungen, die innere Konflikte und Widersprüche vor
Ergebnisoffenheit bewahren (das Drehbuch zu Hidden Figures verdichtet
noch den kompliziertesten Missstand auf eine abrufbereit-griffige
Punchline).
Oscar-Filme wären sicherlich keine Oscar-Filme,
wenn sie ihr ausgestelltes Bewusstsein für neue Probleme nicht in alte
Formen zu bringen verstünden. Die Absicherung individueller
Befindlichkeiten gegen strukturell Unbequemliches will ihnen umso mehr
in einem Jahr gelingen, auf dessen Überforderung und Ratlosigkeit das
Kino offenbar gerade nicht mit anstößigen Affekten reagieren soll. Dazu
verpflichten sich die jungen ebenso wie die 2017 eher unterrepräsentierten
alten Filmemacher. Sogar Mel Gibson darf eben mitmischen, wenn er einen
zwar zuverlässig dummen, aber insgesamt recht braven Film dreht. Nicht
mal auf die Provokateure Hollywoods ist in diesem Jahr Verlass.
Dass viele Preisträger schon seit einer Weile festzustehen scheinen, macht die Angelegenheit nicht spannender. Viola Davis (Fences) und Mahershala Ali
(Moonlight) haben ihre Oscars bereits sicher, La La Land gilt als
gesetzt für Film, Regie und die meisten technischen Kategorien. In
Sachen Musical hat die Academy einiges gutzumachen ,
unabhängig davon verdient La La Land alle seine Preise. Ich würde den
Film auch jederzeit gegen die Einwände der Kritiker und vor allem der
Etepetete-Cinephilie verteidigen, die demonstrativ an ihm verzweifeln,
weil er Jacques Demy
oder "den Jazz" (auweia) nicht verstehe. Dennoch handelt es sich
natürlich um keinen überraschenden, eher einen aufschlussreichen
Oscar-Gewinner.
Die 14 Nominierungen für La La Land sind
gewissermaßen das deutlichste Symptom jener Hollywood-Saturiertheit, die
andere Oscar-Filme mit zaghaften Vorstößen ins Wirkliche zu kaschieren
versuchen. Dem Bedürfnis nach Selbstbeschäftigung werden sich auch die
in entlegenste zeitliche und räumliche Winkel führenden
Betroffenheitsgesten der anderen Filme fügen müssen – und das ist
wahrscheinlich eine angemessene Pointe der diesjährigen
Themenverordnung, zu der sich die Konkurrenz auch ästhetisch kaum
ernsthaft zu verhalten weiß (abgenutzte Bilder so weit das Auge reicht,
vom formschönen Kino-Kalkutta aus Lion zum Kino-Krieg in Hacksaw Ridge).
Oscar-Vorbetrachtungen können in diesem Jahr wieder nur
Verlierer-Prognosen sein. Entscheidend ist, wer nicht gewinnt.
Nicht gewinnen wird zum Beispiel Isabelle Huppert,
deren Nominierung als beste Hauptdarstellerin eine weitere Pointe ist,
nachdem alle angefragten Hollywood-Schauspielerinnen ihrer uneindeutigen
Rolle im zunächst als US-Produktion geplanten Elle
eine Absage erteilten. Die Academy beweist also durchaus Sinn für
selbstkritischen Humor, auch wenn der großartige Film sonst ignoriert
worden ist (Oscar-Pointen kennen Grenzen: eine Rehabilitierung von Paul Verhoeven, dem Regisseur des siebenfachen Razzie-Gewinners Showgirls,
steht noch aus). Hupperts Würdigung produzierte vor allem in ihren
Kampagnenauftritten disparate Effekte, sie wirkte oft fehl am Platz und
eigentlich überqualifiziert für den ganzen PR-Rummel.
Während Kolleginnen beim THR-Roundtable-Gespräch etwa über "therapeutische"
Rollen schwadronierten, die sie nicht mehr losließen und zu völlig
anderen Menschen gemacht hätten, blickte Frankreichs großer Kinostar
tiefenentspannt bis einigermaßen gelangweilt in die Runde. Überhöhungen
ihrer Arbeit sind Isabelle Huppert angenehm fremd, Figuren nähert sie
sich mit intelligentem Understatement. Die vergewaltigte Frau in Elle,
erklärte sie gegenüber Zeit Online , verweigere sich dem Trauma, "weil sie sowieso schon im Trauma lebt". Ihre Gefühle lägen auf "einer anderen Ebene, jenseits des Zeigbaren", nur als Verkörperung von Zuständen, nicht als "biografische Konstruktion" sei das zu spielen. Möge bitte jemand dieses Interview an Natalie Portman weiterreichen.
Ebenso chancenlos wie Isabelle Huppert ist Ruth Negga, die in Loving
als eine vermeintlich unscheinbare Ehefrau und Mutter zu sehen ist.
Gegenüber dem vergleichsweise vordergründigen Spiel ihres männlichen
Co-Stars erarbeitet sich Negga diese Figur mit Vorsicht und
Zurückhaltung, leiser Stimme und eingeschränkten Bewegungen –
erstaunlich, dass sie sich zumindest auf der Nominierungsliste gegen
potentielle Oscar-Kandidatinnen wie Annette Bening oder Amy Adams durchsetzen konnte. Für Giorgos Lanthimos, dessen Drehbuch zu The Lobster
es irgendwie gelungen ist, die Aufmerksamkeit der Academy auf sich zu
ziehen, gilt das umso mehr (ich bin kein Fan dieses Films, aber es ist
der mit Abstand originellste aller diesjährigen "Original
Screenplay"-Kandidaten).
Zu den besonders sicheren Verlierern gehört schließlich auch Mica Levi alias Micachu, die Komponistin von Jackie.
Ihr experimenteller Soundtrack dichtet sich vollständig gegen
musikalische Oscar-Konventionen ab, setzt auf Dissonanzen, die das
Geschehen ständig in Frage zu stellen scheinen, macht Zwischenräume auf,
in die Regie und Drehbuch nicht zu gehen bereit sind. Er darf erkunden
und ergänzen, darf fragmentarisch und rätselhaft bleiben, ist schlicht
eine Meisterleistung. Da die Academy sonst Filmmusik bevorzugt, die sich
entweder als unauffälliger Klangteppich oder kompositorisches
Gefühlsbarometer anbietet, muss hier schon die Nominierung als Gewinn
betrachtet werden.
Wer einwendet, die Oscars eigneten sich ohnehin nur als Spaßveranstaltung, hat freilich Recht. Ihr symbolpolitischer Anstrich, das überschätzte Zuschauerinteresse , die stolze Selbstzufriedenheit – all das ist Teil des Vergnügens. Man muss sie darin ernst nehmen, sie nicht ernst zu nehmen, und dazu gehört eben eine Portion Masochismus. Im Prinzip geht es bei den Oscars nicht um einen Höhe- und Schlusspunkt der Film Awards Season, sondern um die absonderlichen Wege dorthin. Das US-Branchenmagazin Hollywood Reporter startete vor einigen Jahren seine Artikelreihe Brutally Honest Oscar Voter Ballot (neueste Ausgabe hier ), in der Academy-Mitglieder anonym nach ihrer Abstimmungspraxis befragt werden. Dieser Einblick ins so haarsträubend kunstferne wie letztlich kaum überraschende Wählerverhalten erklärt die Sache mit dem vergnüglichen Masochismus wohl am besten.
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