Netflix und seine unberechenbaren Eigenproduktionen

30.11.2016 - 08:50 UhrVor 7 Jahren aktualisiert
Kevin James in Die wahren Memoiren eines internationalen Killers
Netflix
Kevin James in Die wahren Memoiren eines internationalen Killers
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Netflix will im kommenden Jahr die Hälfte seines Angebotes mit selbst produzierten Filmen und Serien bestreiten. Ein unverkennbares Profil verleihen die kostspieligen eigenen Inhalte dem Streaming-Dienst allerdings nicht. Und das hat System.

Viele Wege führen zu Netflix, meiner über Werner Herzog. Mit In den Tiefen des Infernos hat mich der Video-on-Demand-Service doch noch für sich gewinnen können.

Was ich mit dem Abonnement jetzt anstellen soll, ist mir aber nicht ganz klar. Einerseits scheint die Filmauswahl eher jämmerlich: Kino reicht beim deutschen Netflix-Auftritt allenfalls bis ins Jahr 1985 zurück, jede standhaft verbliebene Dorfvideothek ist besser und vielfältiger sortiert als der dazu eine angebliche Alternative bildende VoD-Gigant. Wäre ich außerdem Serienjunkie, was ich gottlob nicht bin, müsste ich trotz der sicherlich ausreichend Zeit füllenden Auswahl irgendwann auch auf Sky oder Amazon zurückgreifen, um alle aktuell interessanten Formate bingewatch-ready abrufbereit zu haben. Andererseits, und das ist durchaus spannend, durchläuft Netflix mit seinen Eigenproduktionen eine andauernde Selbstfindungsphase, die mir recht durchgeknallt vorkommt (und es wahrscheinlich auch ist): Serien und zunehmend Filme irgendwo zwischen ambitioniertem Blödsinn und finanziell überveranschlagtem Größenwahn, Adam Sandler neben Beasts of No Nation, queeres Nischenprogramm neben Superheldenpopanz. Dazu haufenweise Animes, Dokumentarfilme, Stand-Up-Shows. Alles durcheinander und eng beisammen.

Auf den ersten Blick wirken die selbst produzierten Inhalte wahllos aufgestellt. Es fehlt, anders als etwa bei HBO-Serien, ein unverkennbares Profil, ästhetische oder erzählerische Qualitäten lassen sich im Vorfeld nicht abschätzen. Verbindende Eigenschaften, die über das einheitliche Distributionsmodell hinausgehen, gibt es offenbar keine. Der typische Netflix-Inhalt zeichnet sich dadurch aus, möglichst untypisch zu sein – als Eigenproduktion identifizierbar ist er nur durch einen entsprechenden Hinweis. Mir scheint klar, worauf das Unternehmen mit seiner vermeintlich (?) unberechenbaren Content-Strategie abzielt (Befriedung aller Zuschauergruppen durch geschmackliche Vielfalt), aber weit weniger, warum es das zu Bedingungen macht, die dem Branding ein verwechselbares Äußeres verleihen. Entweder geht es Netflix nicht um eitle Markenpflege. Oder der Video-on-Demand-Service stellt Erkennungswert und Aufmerksamkeitsökonomie strukturell sicher, vorrangig über die exklusive Verfügbarkeit seiner eigenen Inhalte, deren schiere Menge US-Premium-Kabelsender wie HBO und FX längst abgehängt hat.

In den Tiefen des Infernos

Dafür würde eine Produktionsweise sprechen, die ganz dem Unternehmensvorteil verpflichtet scheint. Netflix ist weder von Werbekunden noch von Quoten oder gekauften Kinotickets abhängig, sogar die Abrufzahlen spielen erst einmal keine allzu gewichtige Rolle (Netflix-CFO David Wells : "Nicht jede Show muss ein Hit werden."). Entscheidend ist das Wachstum der Abonnenten, auf lange Sicht vielleicht auch eine Erhöhung des noch vergleichsweise günstigen Bezugspreises. Der Streaming-Dienst kann es sich also erlauben, munter ins Blaue zu produzieren (irgendwem wird schon irgendwas gefallen), und er tut das nach einem sehr kostspieligen Klasse-durch-Masse-Prinzip: Sechs Milliarden Dollar will Netflix im kommenden Jahr für eigene Inhalte ausgeben, eine Milliarde mehr als 2016. Das Unternehmen möchte ein gleichmäßiges Angebot von lizenzierten und selbst produzierten Programmen bereitstellen. Und Druck ausüben, das möchte es natürlich auch. Auf die VoD-Konkurrenz und TV-Networks ebenso wie auf Hollywood-Studios, die 2017 durch prestigeträchtige Netflix-Filmproduktionen erstmals in ernsthafte Bedrängnis gebracht werden könnten.

Die Schuldenlast von Netflix wächst somit auf drei Milliarden Dollar  an. Schon jetzt werden Unsummen in den Ausbau des "Original Content" investiert, ganz gleich, ob es sich dabei um Special Interest oder Mainstream handelt. HBO lässt sich eine Folge Game of Thrones 10 Millionen Dollar kosten, Netflix gibt pro Episode The Get Down lockere 16 Millionen aus (für die noch nicht abgedrehte erste Staffel sind das 190 Millionen Dollar ). Zehn Folgen The Crown verschlingen 130 Millionen , eine Staffel Bloodline kostete zwischen 70 und 85 Millionen . Das Budget von Sense8 bewegt sich laut Netflix-CEO Ted Sarandos  auf dem Niveau der Wachowski-Spielfilme, im Fall von Jupiter Ascending wären das 176 Millionen. Wo Game of Thrones aber eine Serie ist, die populärer nicht sein könnte – sie verschafft dem hauseigenen Streaming-Dienst HBO Go Aufschwung, räumt zuverlässig bei Preisverleihungen ab und setzt durch DVD-Verkäufe Millionen um –, spricht kaum jemand über die genannten Netflix-Produktionen. Nicht The Get Down erzeugt Aufmerksamkeit, sondern die wesentlich günstiger hergestellten Superheldenserien oder das 80's-Revival Stranger Things.

The Get Down

Durchgeknallt eben. Und darin ziemlich sympathisch. Wer so eifrig produziert, was definitiv nicht jeder sehen will, meint es wohl ernst mit seinem Publikum. Klar, Netflix erhebt Kundendaten und analysiert sie akribisch, das experimentierfreudige Geschäftsmodell zahlt sich am Ende garantiert doppelt und dreifach aus. Aber wie der VoD-Anbieter mit seinen Eigenproduktionen auf dicke Hose macht, gefällt mir gerade in seiner scheinbaren Widersprüchlichkeit. Denn bei Netflix kommt das eigentlich Unvereinbare zusammen. Ein Wundertütenprogramm, wo Joe Swanberg (Easy) sich genauso austoben darf wie Kevin James (Die wahren Memoiren eines internationalen Killers). Wo ein geistreicher Essayfilm wie My Beautiful Broken Brain neben der nicht ganz so geistreichen Reunion Fuller House steht. Wo ein an aktuellen Genrevorlieben vorbeiproduzierter Geisterhorror wie I Am the Pretty Thing That Lives in the House auf das ungefragte Wuxia-Sequel Crouching Tiger, Hidden Dragon 2: Sword of Destiny trifft. Und dann feiert in diesem kontrollierten Irrsinn auch noch Dave Chappelle ein Comeback, dessen drei geplante Stand-Up-Programme dem Unternehmen 60 Millionen Dollar wert sind.

Vielfalt beschränkt sich dabei übrigens nicht auf Inhalte, Genres und Formate. An Diversität – dem großen Reizwort für Menschen, die es überfordert, dass die Welt in Film und Fernsehen zunehmend so repräsentiert wird, wie sie ist: alles andere als weiß und männlich – mangelt es den Angeboten von Netflix nicht. Das hat zum einen mit der Internationalisierung des Streaming-Dienstes zu tun: Für bestimmte Absatzmärkte produzierte Sendungen, beispielsweise die japanische Serie Good Morning Call, werden ins Gesamtprogramm eingespielt und größtmöglich verfügbar gemacht (neben verschiedenen Sprach- und Untertiteloptionen stellt Netflix auch vermehrt Audiodeskriptionen bereit). Zum anderen produziert das Unternehmen mit dem selbsterklärten Anspruch , niemanden ausschließen zu wollen. In Serien wie Orange Is the New Black, Grace and Frankie oder Master of None geht es folglich auch darum, die Erfahrungswirklichkeiten von Minderheiten und marginalisierten Gruppen abzubilden. Wohin gesellschaftlicher und kultureller Ausschluss führt, zeigt dann ganz konkret die Dokumentation 13th, angemessen unangenehm inszeniert von Ava DuVernay (Selma).

Wie gesagt, ich kam für Werner Herzog und seinen Vulkanfilm. Darin geht es um alles außer Vulkane, genial und gaga zugleich, ein typischer Herzog. Ob ich bleiben werde, habe ich noch nicht entschieden. Die Unerschrockenheit von Netflix wäre ein gutes Argument.

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