Cannes ohne Netflix - Endlich wieder über den Tellerrand schauen

08.05.2018 - 15:40 UhrVor 6 Jahren aktualisiert
Fahrenheit 451: Einer der "Amerikaner" im Programm
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Heute Abend wird das Festival Cannes von Everybody Knows eröffnet. Dabei zeigt sich das Festival zum 71. Geburtstag im Tauziehen zwischen Tradition und Moderne, Streaming-Anbietern und, nun ja, Selfies.

"Du kommst nicht nach Cannes, um gesehen zu werden", erklärte Festivalchef Thierry Frémaux am Montag in einer Pressekonferenz, "sondern um zu sehen". Die 71. Ausgabe des wichtigsten Filmfestivals der Welt ist so umstritten wie lange nicht. Ein Abbruch des Festivals wie bei der legendären Ausgabe von 1968 ist zwar nicht zu erwarten - außer Jury-Präsidentin Cate Blanchett macht einen verbotenen Selfie auf dem roten Teppich. Zwischen Netflix-Boykott, MeToo-Bewegung und dem vor großen Namen nicht gerade überquellenden Wettbewerb drohen die Skandale und Diskussionen um die Modernisierungsfähigkeit der altehrwürdigen Institution in Südfrankreich den Kern der Angelegenheit zu überschatten: die Filme. Die sollen und wollen gesehen werden, anders als die Premierengäste, die mit ihren Selfies zuletzt Leib, Leben und Zeitplan des Festivals bedrohten. Wenn also eines nicht zutrifft auf das Festival Cannes in diesem Jahr, dann Langeweile. Das ist bereits vor der Premiere von Everybody Knows von Asghar Farhadi klar, der heute Abend mit Penélope Cruz und Javier Bardem das Festival eröffnet.

Beim Festival Cannes wird der Celebrity-Kult in Reinform betrieben

Von außen mag Cannes wie die polierte, ultraexklusive Mutation eines Filmfestivals wirken und von innen manchmal auch. Das beginnt schon bei der Einfahrt in die Küstenstadt, vorbei an Autohäusern und Burgerrestaurants in den Außenbereichen. Das ist aber auch die einzige Ähnlichkeit, die Cannes mit einer thüringischen Fast-Großstadt hat. Die Automarken blenden einen in der Mai-Sonne mit ihrer mutmaßlichen Unerschwinglichkeit, während man im Shuttle-Bus auf die Küste zufährt, und für die Burger-Preise kann man in Thüringen vermutlich einen Gebrauchtwagen kaufen. So zumindest die Vorstellung.

Das Festival selbst wirkt wie Anti-Aggressionstraining für professionelle Sozialneider. Limousinen, Stars, die im Blitzlichtgewitter der Fotografen aufleuchtenden Kleider und Smokings - sie alle kommen mehrmals am Tag auf dem roten Teppich vor dem Auditorium Louis Lumière zusammen, um ihr glamouröses Ritual zu begehen. Der Kult um Berühmtheit, Reichtum und Schönheit findet an der Croisette jedes Jahr zu seiner Reinform. Selbst die Oscars kommen an diesen Effekt nicht heran. Die haben schließlich auch einen Turnier-Charakter. Es geht um einen Preis, Nervosität, Anstrengung, die alle Eleganz zunichte machen. In Cannes mögen Filme um die Goldene Palme kämpfen, beim roten Teppich zählt aber nur das Hier und Jetzt des Olymps in greifbarer Nähe. Der Moment des Dazugehörens. Absolutiert wird das geschmacklose Spektakel durch das Primat der Kunst.

Das Festival-Poster mit einem Motiv aus Godards Elf Uhr Nachts

Das dürfte einer der Gründe für die Änderungen an den Pressevorführungen dieses Jahr sein. Früher konnten Kritiker die Filme morgens in der Vorführung ausbuhen oder umjubeln, mittags die Kritik veröffentlichen, bevor Abends die echte Weltpremiere anstand. Vielfach mit Verrissen im Hinterkopf. Cannes 2018 läuft anders. Pressevorführungen der Wettbewerbsfilme finden zeitgleich mit der Premiere oder sogar erst am nächsten Morgen statt. Das sorgte für heftige Kritik. Manche verdammten die Änderungen einer jahrzehntealten Tradition, andere plädierten als Alternative für ein Embargo, wie es dieses Jahr bei der Berlinale durchgezogen wurde; mit dem Effekt, dass die Berlinale bei Twitter gefühlt kaum noch stattfand.

Anders als die Berlinale steht Cannes allerdings in einem ständigen Dialog mit seinen Pressebesuchern. Das zeigt sich, wenn Thierry Frémaux bei der Bekanntgabe des Programms Monologe hält und jeden einzelnen Film kommentiert, als führe er in die Retro eines Cinephilen-Clubs ein. Es äußert sich aber auch in einer ellenlangen E-Mail, die kürzlich an Pressebesucher herausging, um die Motivation der Festivalleitung zu erklären. Beweggründe werden dargelegt, die Bemühungen erklärt, den Journalisten das Arbeiten zu erleichtern. Nicht alles leuchtet ein, die Transparenz aber beeindruckt. Gerade bei einem Festival, das dem Vorwurf des Elitären unterliegt und diese Abgehobenheit mit seinen Limousinen, dem roten Teppich und den Designerkleidern vorlebt.

Netflix vs. Cannes - Eine Peinlichkeit für beide Seiten

Netflix gab sich zuletzt als digitaler Rebell gegen eine reaktionäre ergraute Elite. Die Kommentare von Content-Chef Ted Sarandos, als er den Boykott des Festivals bestätigte, zeugten allerdings eher von einer Hybris auf der anderen Seite des großen Teichs. Es ist im Großen und Ganzen ein Trauerspiel gewesen, was da in den letzten Wochen vor sich ging. Für Cannes, das einen Stellvertreterkrieg für die französischen Kinobetreiber führte, und für Netflix, die jeden Konsens, darunter Premieren außer Konkurrenz, ausschlugen. Netflix, das offenbarte sich einmal mehr, nimmt Glanz und Gloria des Kinos in Anspruch, ein vermeintlicher Underdog mit dem Ego eines Megalomanen. Die ganze peinliche Angelegenheit unterstreicht schlussendlich eines: die Strahlkraft von Cannes, auch in seinem 71. Jahr, auch mitten im turbulenten Wandel der Filmindustrie.
Girls of the Sun: Einer von drei Filmen im Wettbewerb, die von Frauen inszeniert wurden

Ebenso heiß diskutiert und kritisiert: Die enttäuschende Anzahl an weiblichen Filmemachern im Programm, die sich Jahr auf Jahr wiederholt. Thierry Frémaux muss schon die deprimierendsten Zahlen heranziehen, damit die rund 20 Prozent Frauenanteil in der offiziellen Auswahl ansatzweise positiv wirken: Weltweit, so Frémaux, werden ja nur 7 Prozent aller Filme von Frauen inszeniert. Ganz nach der Devise: Woanders ist das Gras noch weniger grün. Der MeToo-Debatte begegnet das Festival, dessen gern gesehener Gast Harvey Weinstein war, wiederum mit einer Hotline für Opfer sexueller Belästigung. Wir dürfen gespannt sein, wie Jury-Präsidentin Cate Blanchett durch diese Problemzonen des Festivals manövriert.

Das Weltkino ist zu Gast im Wettbewerb von Cannes

Wird Cannes ohne Netflix und Filmstars noch Einfluss haben, bangt die Variety  derweil. Die kleine Präsenz von US-Filmen im Wettbewerb ist nicht nur auf den Boykott des Streaming-Dienstes zurückzuführen, sondern angeblich auch auf die Oscar-Saison. A Star is Born von Bradley Cooper und das Suspiria-Remake seien fertig gewesen. Sie sollen allerdings später Premiere feiern, damit der Hype in den goldenen Herbst hineingetragen wird. Venedig und Toronto haben sich hier in den letzten Jahren als bessere Startblöcke erwiesen, so die Logik. Alldieweil müssen die mittelgroßen und kleinen Player im Markt ganz genau hinschauen, ob die Kosten einer Cannes-Premiere sich in Sachen Vermarktung auszahlen.

Vielleicht wirkt das Programm deswegen vielfältiger. Sieben US-(Ko-)Produktionen waren vergangenes Jahr im Wettbewerb, diesmal sind es zwei. Dafür fällt der asiatische Anteil auf, vom Iran über Kasachstan bis nach China, Japan und Südkorea. Die englischsprachigen Weltstars werden sich 2018 rarer machen, wenn auch der Mangel bei einem Blick auf die Filme außer Konkurrenz weniger akut erscheint, darunter Fahrenheit 451, The House That Jack Built und Solo: A Star Wars Story. Dafür könnte Cannes 2018 im Wettbewerb seinem Image als Fixpunkt des Weltkinos wieder gerecht werden. Es ist Zeit, über den Tellerrand zu schauen.

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Auf welche Filme im Programm von Cannes freut ihr euch?

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