Die gute Nachricht vorweg: Der Serienkillerfilm Psycho Raman erscheint Ende des Monats in Deutschland auf DVD. Hoffentlich bleibt dem poppigen Thriller ein grenzdebiler Titel à la Asian Godfather erspart, der die hiesigen Cover von Gangs of Wasseypur verschandelt. Der Asian Zodiac (Verzeihung!) streicht im neuen Film von Gangs-Regisseur Anurag Kashyap durch die Stadtränder Mumbais und erschlägt einen Menschen nach dem anderen. Auf Befehl von ganz oben ahmt er einen Serienkiller aus den 1960er Jahren nach und sucht ausgerechnet in dem koksenden Polizisten, der ihn zur Strecke bringen will, seinen Seelenverwandten. Der filmische Abstieg in die Abwasserkanäle Mumbais gehört zu den bisherigen Höhepunkten des Festivals in Sitges, denn in Dreck, Blut und Feuer von Anurag Kashyaps Vision entfaltet sich ein hypnotischer Tanz mit dem Todesgott. Shion Sono hingegen findet das Grauen an einem allzu vertrauten Ort: dem Filmset. Anti-Porno dürfte es bedeutend schwerer haben, in Deutschland eine Auswertung zu bekommen, auch weil der Regisseur in der Variation des Roman Porno-Genres seine avantgardistischen Tendenzen auszuleben scheint.
Anti-Porno entstand im Rahmen von Nikkatsus Roman Porno Reboot . Das japanische Studio schließt damit an die Erotikfilme an, die ihm vor 45 Jahren kommerziell den Hals retteten. Roman Pornos hatten eine Mindestanzahl an Sexszenen zu liefern, darüber hinaus konnten sich aufregende Regisseure jener Jahre austoben in dem Format. Nun haben Hideo Nakata, Shion Sono und andere das Genre neu aufgelegt mit einer Reihe von Filmen, die alle um die 70 bis 80 Minuten lang sind. Wie viel künstlerische Freiheit dieser neuen Generation von Roman Porno-Machern zusteht, lässt sich an den theatralischen Psychotrip Anti-Porno erahnen, der sich von Anfang an so tief im malträtierten Hirn seiner Heldin verfängt, dass der Zuschauer auf sich allein gestellt seinen Weg durchs knallgelbe Labyrinth ihres Bewusstseins finden muss. Als anstrengend mag der Zuschauer das empfinden oder aber als Abenteuer, an dessem Ende nicht notwendigerweise ein Schatz wartet.
Mit seinen treibenden Popsongs und Elektrokompositionen macht es einen Psycho Raman da bedeutend leichter. Es ist dezidiert keine Geschichte über den indischen Serienkiller Raman Raghev, der seinen Opfern den Schädel einschlug und hinterher seelenruhig ihr noch warmes Abendessen verspeiste. Statt eines teuren Historienfilms drehte Anurag Kashyap eine Doppelgängergeschichte in mehrfacher Hinsicht. Sein Raman 2.0 imitiert das Original und sucht selbst Vollständigkeit. Er findet sie 2013 durch einen Zufall. Im Affekt erschlägt er seinen Onkel und wird beinahe auf frischer Tat ertappt. Ramanna (Nawazuddin Siddiqui) versteckt sich. Der Hammer liegt noch da. Ein Mann schleicht durch die Wohnung, sieht die Leiche, greift die Gelegenheit beim blutigen Schopf. Er räumt den Safe mit Drogen aus und wird selbst von einem anderen ertappt. Er greift zum Hammer. Dieser Mann, das zweite Glied in der mörderischen Kettenreaktion, heißt Raghavan (Vicky Kaushal) und ist ein Cop. Er wird später darauf angesetzt, Psycho Raman zu schnappen, der mehrfach in die Hände der Polizei gerät, frei gelassen wird, entkommt und doch seinen Jäger Raghavan nie aus den Augen lässt. Ramanna verfährt offenherzig mit seinen Taten. Er besitzt nur (noch) diese eine Identität und, wie er später sagt, mordet, wie andere essen oder trinken. Als hätte der Todesgott persönlich seinen Auftrag niedergeschrieben, zieht sich eine lange dunkle Narbe über Ramannas Stirn, wie die Wunden über die Köpfe seiner Opfer und die Mordserie durch die Stadt.
Irgendwas ist geplatzt, hat sich verschoben beim Kind oder Mann, eine Erklärung für die Taten wird in Psycho Raman glücklicherweise ausgespart. Stattdessen wird die konventionelle Serienkillergeschichte zum Anlass genommen, mit dem mörderischen Gottesboten durch die Stadt zu streifen, sich an seine Schulter zu klemmen, zuzusehen, statt seine Taten durch die Mangel der Drehbuchtherapie zu pressen, Übersicht zu schaffen, Verständnis, Kontrolle. In pulsierender Unnachgiebigkeit führt uns der Film von den notdürftigen Wellblechhütten über leerstehende Wohnblocks hinab in die Clubs, wo koksschniefende Polizisten den Tag wegtanzen. Ramanna ist morbid-fröhlicher Pop, der die Tonsspur ertränkt, als er sich daran macht, die Familie seiner Schwester zu ermorden. Durch Raghavans Hirn dröhnt 24 Stunden EDM, schwerlich verborgen von der obligatorischen Sonnenbrille.
Suchte der Festivalbesucher hinsichtlich der Stimmung und Ästhetik den ultimativen Gegenpol zu Psycho Raman, wäre The Eyes of My Mother eine naheliegende (bzw. weit entfernte) Wahl. Seit seiner Sundance-Premiere regnet das Lob hernieder auf die Produktion des Künstlerkollektivs Borderline Films (James White, Afterschool, Christine), in der die Kindheit und Jugend einer Serienkillerin (Kika Magalhaes) in makellosen Schwarz-Weiß-Bildern dokumentiert wird. Franciscas Landleben mit ihren Eltern hat so schon etwas von David Lynch American Gothic , da bittet ein allzu freundlicher Fremder um Einlass und ermordet die Mutter. Der Vater übermannt ihn und kettet ihn im Speicher an. Francisca fühlt sich magisch hingezogen und übt an ihrem neuen besten Freund sogleich die chirurgischen Fähigkeiten, die sie von ihrer portugiesischen Mutter gelernt hat. Nach dem Ableben des Vaters wartet die totale Einsamkeit, das Todesurteil für kommende Zufallsbekanntschaften.
Zach Kupersteins exquisite Schwarz-Weiß-Fotografie vermag in jedem fahlen Schein, jedem Glänzen des Mondlichts auf Haaren und Schultern das Leben aus der starren, hermetischen Vision des Films herauszupressen. Die trauernde Leidenschaft des Fado, die Francisca begleitet, wirkt hingegen aufgesetzt. Wir stehen bei den Taten sozusagen gelangweilt zwischen Tür und Angel. Das verstört, keine Frage. Die großäugige, allzu undifferenzierte "Psycho"-Darstellung von Kika Magalhaes allerdings legt die Schwächen der Inszenierung von The Tears of My Mother frei. Sie wird von einem Alien-Blick getragen, der sich ebenso gut in die Lüfte erheben und davon eilen könnte. Die Frage ist nur, warum ein Alien, oder irgendjemand, bleiben will.
Diese Frage dürfte auch manchem bei Anti-Porno durch den Kopf gehen (ein paar Zuschauer verließen den Saal schon nach zehn, zwanzig Minuten). In dem rudimentären Set erschlägt einem Kyoko (Ami Tomite) erst einmal mit langen Monologen über Sex, Gewalt, Frauenrechte und Japan, gelegentlich unterbrochen von ihrer hörigen Assistentin und der trashigen Entourage eines Modemagazins. Es kreischt aus Mündern, Augen und Wänden, die Kamera hin und her getrieben, der Schwächling beim Spielen auf dem Schulhof, der die Regeln nicht kennt. So zumindest der erste Eindruck und auch der zweite und dritte, bevor Anti-Porno die Perspektiven auf den Kopf stellt und noch einmal und noch einmal. Je weniger darüber geschrieben wird, desto besser. Selber sehen und lieben oder hassen lautet hier wohl die Devise.
Mein Eindruck: Ein nicht mal 80-minütiger Shion Sono kann länger wirken als seine Zwei-, Drei- oder Vierstünder. Viel spannender als Anti-Porno, der sich im Finale sprichwörtlich über die japanische Gesellschaft auskotzt, wäre zuzusehen, wie die anderen Roman Porno Rebooter darauf reagieren. Anti-Porno zerlegt das Genre und ich möchte sehen, wie es wieder zusammengesetzt wird.