Paul Thomas Anderson und die Kontrolle über das Chaos

26.06.2015 - 08:50 UhrVor 9 Jahren aktualisiert
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Warner Bros.
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Mit Paul Thomas Anderson feiert heute einer der größten Namen des US-amerikanischen Kinos Geburtstag. Wir gratulieren zum 45. Geburtstag und werfen eine Blick auf das eindrucksvolle Schaffen des immer noch jungen Regisseurs.

Es ist ein ganz normaler Tag im Leben von Barry Egan, ein mäßig erfolgreicher Kleinunternehmer. Ein Tag, der mit einem Kaffee in der Hand und einem erfolglosen Kundengespräch beginnt, bis ihn eigenartige Geräusche nach draußen locken, wo er sich an die Straße stellt - einfach nur so, um zu schauen. Im nächsten Moment kommt ein Auto von der Straße ab und fliegt durch die Luft, gefolgt von einem heranfahrenden Bus, der vor Egans Nase anhält, ein Harmonium auf die Straße stellt und wieder verschwindet. Die Hintergründe dieses Einstiegs zu Punch-Drunk Love werden wir im Laufe des Films nicht mehr erfahren. Eine ganz normale Szene im Kino von Paul Thomas Anderson.

"Meine Lieblingsregisseure sind diejenigen, die die Regeln des Kinos befolgen und dann einfach irgendwas völlig Wahnsinniges draufpacken", sagte Anderson einst in einem Interview. In der Tat würden nicht sehr viele seiner Kollegen einen Film wie Magnolia machen, der den Großteil seiner dreistündigen Laufzeit braucht, um ganz im Sinne von Robert Altman die Verstrickungen seines Ensembles behutsam zu erforschen und sie mit der Eloquenz eines David Mamet auszuschmücken, nur um es dann einfach Frösche regnen zu lassen. Wenn gegen Ende des selben Films dann auch noch plötzlich alle Figuren für sich in das gleiche Lied einstimmen, ist das wahnsinnig, aber es ist eben auch Ausdruck eines sehr romantischen Verständnisses von Kino: Ins Kino gehen bedeutet, eine Partnerschaft mit dem Fremden und der Unsicherheit einzugehen. Die Filme von Paul Thomas Anderson leben von dieser Partnerschaft, auch, oder gerade weil sie sich selten fundamental von den Konventionen der narrativen Methodik distanzieren. Anton Chekhovs berühmte Waffe an der Wand  findet auch in Andersons Werken Einzug und auch hier wird sie im finalen Akt abgefeuert. Bloß geschieht das bei Anderson eher in Form von Dirk Digglers gigantischem Gemächt, dessen physische Bedrohlichkeit in Boogie Nights zunächst vorgestellt ("I got a feeling that behind those jeans is something wonderful just waiting to get out") und im Laufe des Films manifestiert wird, bis Dirk das Ding im Finale einfach auspackt und der Neugier des Zuschauers ein für alle Mal ein Ende setzt.

Von Entscheidungen wie diesen geht der Reiz und die Faszination von Andersons Filmen aus. Sie befinden sich einerseits in einem permanenten Zustand der Unbeständigkeit; wir können uns nie so richtig sicher sein, was in der nächsten Minute passieren wird, wie sich der nächste Auswuchs des untergründig liegenden Wahnsinns äußern wird, weil wir immer mit einem emotionalen Chaos konfrontiert sind. Sei es nun das Chaos, was aus der Dynamik einer breitgefächerten Figurengruppe entsteht, wie in Magnolia oder Boogie Nights, oder das innere Chaos einzelner Protagonisten, wie in There Will Be Blood oder The Master. So oder so dringt es früher oder später an die Oberflächliche, ob es der nunmehr vielfach zitierte Wutausbruch von Daniel Plainview in There Will Be Blood ("I drink your milkshake!"), oder das endgültige mentale Abdriften von Freddie Quell in The Master ist.

Die Vorliebe für den Blick auf die Unkontrolliertheit allein verhalf Paul Thomas Anderson aber natürlich nicht zu dem Status, den er heute genießt. Die Eigenartigkeit seiner Filme wurzelt eben auch darin, dass seine Inszenierung, sein "show-off style of directing", wie er es selber spöttisch nennt, das genaue Gegenteil suggeriert: Es ist alles unter Kontrolle. Kein Wunder, dass seine formal-ästhetische Handschrift allzu gern mit der von Stanley Kubrick verglichen wird, dem wohl berühmt-berüchtigsten Perfektionisten der Kinogeschichte. Andersons bis zum Anschlag durchkalkulierte Inszenierung  ist unter Cinephilen ein beliebtes Thema, doch sie ist nicht bloß formelle Schönheit. Schließlich ist genau dieser Kontrast letztendlich der ausschlaggebende Punkt für Paul Thomas Andersons Erfolg. Bei kaum einem anderen Regisseur macht die Kamera einen derart gehorsamen Eindruck, während das, was sich vor ihr abspielt, von nichts als Freiheit und Losgelöstheit zeugt. Anderson liebäugelt mit narrativen Konventionen und bedient sie hier und dort, schreckt aber niemals davor zurück, sich ihnen von einem Moment auf den anderen zu widersetzen. Die zahlreichen Lacher in Boogie Nights bleiben ab der Hälfte des Films buchstäblich im Halse stecken, während The Master schon sehr viel früher klar macht, dass das hier keine klassische Erzählung vom heimgekehrten Kriegsveteranen bleiben wird.

Besonders eindrucksvoll werden diese handwerklichen Leistungen aber erst dadurch, dass sie bei all dem formellen Perfektionismus niemals den Blick für das große Ganze verlieren. Die vereinzelte Kritik an Anderson, er würde zu großen Wert auf den style legen, ist sicherlich nachvollziehbar, doch sie ignoriert auch häufig, dass sich hinter all dem Style nicht nur die Eitelkeit eines Regisseurs verbirgt, der unbedingt zu den ganz großen amerikanischen Kinolegenden gehören möchte (auch wenn das sicherlich mitschwingt). Stattdessen sind seine Filme ambitionierte Porträts, die das Schicksal des Einzelnen in den Kontext einer ganzen Generation setzen: Boogie Nights demonstriert anhand von Dirk Digglers Karriere in der Porno-Industrie in erster Linie, wie sich das amerikanische Wirtschaftsklima in den 1980ern endgültig der bedingungslosen Profitmaximierung hingab, im Film metaphorisch dargestellt durch die Umstellung von analogem Film auf Videotape - stellvertretend für die Gier nach Massenproduktion als Mittel zum endlosen Reichtum, in einem von Kokain angepeitschten System der Rücksichtslosigkeit, in dem es keine Rolle spielt, wer leidet, solange der Gewinn stimmt. Ein Motiv, dessen Wurzeln er bekanntlich zehn Jahre später mit There Will Be Blood ausführlich auf den Grund ging und Daniel Plainview Ende des 19. Jahrhunderts auf seiner unermüdlichen Suche nach Öl begleitete. Freddie Quell ist in The Master lediglich ein weiteres Abfallprodukt des Zweiten Weltkriegs, ein Kind seiner Zeit, verloren in seiner neu gewonnenen Freiheit, orientierungslos und verzweifelt auf der Suche nach führenden Händen in einer chaotischen Gesellschaft ohne klare Marschrichtung.

Inherent Vice reiht sich in diese Tradition nicht nur ein, er treibt es kompromisslos auf die Spitze. Paul Thomas Anderson kehrt nach Boogie Nights erstmals in die 1970er Jahre zurück, doch dieses Mal betrachtet er das Jahrzehnt aus einem anderen Blickwinkel. Porträtierte er sie in Boogie Nights noch als das Goldene Zeitalter der Verantwortungslosigkeit, als die letzte Chance nochmal ordentlich auf die Kacke zu hauen, bevor die 1980er und AIDS alles versauten, so sind die 1970er in Inherent Vice der verkaterte Morgen einer viel zu wilden Party, die irgendwann um 1968 angefangen hat. Ähnlich wie Freddie Quell leidet auch Doc Sportello ein bisschen unter seiner Orientierungslosigkeit, in seinem Fall resultiert sie jedoch aus einer Mischung aus unheilbarer Nostalgie und pessimistischem Blick auf die Zukunft. Für Doc waren die 1960er eine gute Zeit, voller Drogen und freier Liebe mit Hinblick auf noch sehr viel schönere Jahre, die noch folgen sollten, aber letzten Endes nie kamen. Paul Thomas Anderson schöpft in seiner Meditation um eine Generation, die die in den 1960ern noch so verbreitete Hoffnung auf eine bessere Zukunft verloren hat, die audiovisuellen und narrativen Kapazitäten des Kinos aus und schickt uns Zuschauer damit auf den selben emotionalen Trip, den Doc Sportello auch durchmachen muss. Warum Inherent Vice sowohl von Fans als auch von Kritikern vergleichsweise verhalten rezipiert wurde, bleibt ein Mysterium.

Inherent Vice ist schließlich nur der konsequente nächste Schritt in einer erstaunlichen Karriere, die sich stets für die Unkontrollierbarkeit des Lebens interessiert hat, voller humanistischer Beobachtungen und liebevollen Aufarbeitungen der Gefühlswelt ihrer Helden. Und wenn dieser Schritt ein Anzeichen dafür gewesen ist, wohin diese Karriere in Zukunft gehen wird, dann können wir nur hoffen, dass uns Paul Thomas Anderson noch weitere 45 Jahre erhalten bleibt. Ganz dicht hinter der Kamera.

Was haltet ihr von Paul Thomas Anderson?

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