Netflix' The Irishman ist der Anti-MCU-Film - und ermüdet trotzdem

29.11.2019 - 15:24 UhrVor 4 Jahren aktualisiert
The Irishman mit Robert De NiroNetflix
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Die Kritiker sind sich einig: Mit The Irishman liefert Martin Scorsese ein großes Epos ab. Die Regie-Legende kann es sich offenbar leisten, nicht viel Neues zu erzählen.

Martin Scorsese war in aller Munde, nachdem er die Superheldenfilme des MCU Anfang Oktober mit Themenparks verglich und seinem Statement anschließend noch eine ausführliche Erläuterung folgen ließ. Ganz nebenbei hat er aber auch einen eigenen Film am Start: The Irishman ist jetzt auf Netflix verfügbar und verlangt uns mit sagenhaften dreieinhalb Stunden Laufzeit einiges an Sitzfleisch ab.

Kritiker aus aller Welt überschlagen sich mit Lob und feiern The Irishman als melancholischen Abgesang auf die Gattung Mafiafilm. Halbherzig gesponnene Sub-Plots können dem Netflix- (und Kino-)Großereignis anscheinend ebenso wenig anhaben wie durchwachsenes CGI oder das neuerliche Auskippen allzu bekannter Pointen des Genres über dem Zuschauer.

The Irishman ist wie ein Freizeitpark, aber nur für Scorsese-Fans

  • Martin Scorsese erzählt eine Geschichte über Aufstieg und Fall (im Mafia-Milieu) und demonstriert uns auf der Tonspur seinen grandiosen Musikgeschmack. Das gab's noch nie!
  • The Irishman ist dabei schwermütiger, aber auch schwerfälliger als Goodfellas oder Casino, sodass einige Bilder noch abgestandener wirken.
  • Nach seiner Kritik am MCU muss sich Scorsese auch an die eigene Nase fassen.

Netflix-Film The Irishman: (Fast) alles schon gesehen

The Irishman versprüht das Flair eines verregneten Sonntagnachmittags aus Kindertagen, an dem der Großvater aus seinem Leben erzählte. Weniger spannende Facetten der Story werden über Gebühr ausgeschmückt und nach mehreren Stunden hat sich die Geschichte komplett in einer Sackgasse verfangen. Unterbrechen geht aber nicht, das verbietet der Respekt vor dem Alter. Am Ende ist unser Triumph, nicht eingeschlafen zu sein. Achtung, Spoiler zu The Irishman!

The Irishman: Al Pacino und Robert De Niro

In The Irishman findet die Situation ihre Entsprechung in Robert De Niro als Frank Sheeran, der seine Geschichte aus dem Altersheim heraus vor uns ausbreitet. Durch den einflussreichen Gangster Russell Bufalino (Joe Pesci) bringt es Frank vom Lastwagenfahrer zum Vollstrecker für die Mafia sowie zum Leibwächter des Gewerkschaftsführers Jimmy Hoffa (Al Pacino), dessen Namen jüngere Generationen noch zu Sheerans Lebzeiten nicht mehr kennen.

Unverkennbar ist The Irishman das Testament einer Generation alter krimineller Männer, die entweder schnell vergessen sind oder die - wie Frank - sogar schon einsam sterben. Zugegeben: So düster wie das letzte Drittel von The Irishman war bislang noch kein Scorsese-Film.

Um hierhin zu gelangen, muss sich der Zuschauer aber zuerst durch ein langes Best of des Regisseurs kämpfen, das das Bewusstsein um seine handwerkliche Klasse höher hält als erzählerische Ökonomie.

Als Mafia-Insider, der später zum Außenseiter wird, ist Frank Sheeran eine prototypische Scorsese-Figur in der Tradition von Henry Hill (gespielt von Ray Liotta in GoodFellas) und Ace Rothstein (gespielt von Robert DeNiro in Casino). Da er wie seine Vorgänger als unzuverlässiger Erzähler auftritt und wir die Welt aus seiner Perspektive sehen, darf sich The Irishman alles erlauben: glorifizieren, verurteilen, marginalisieren, lügen. Es ist wie auf einem Rummelplatz.

Scorsese liebt es, sich auf diese Weise seine Protagonisten wie auch den Zuschauer zurechtzulegen. Neue Erkenntnisse bringt das Spiel allerdings nicht. Wir dürfen uns nur aussuchen, ob der Mangel an Screen Time von Frauen in The Irishman ein indirekter Kommentar auf Sheerans fragwürdiges Weltbild ist oder Scorsese - genrekonform - einfach nicht so viel Wert auf eine weibliche Perspektive legte. Männerkino durch und durch bleibt der Film in jedem Fall.

The Irishman ist eine frustrierende Geduldsprobe

Die angebliche Rolle der Mafia bei der Ermordung John F. Kennedys wird in The Irishman ebenso angeschnitten wie Sheerans potentielle Verstrickung bei der Schweinebuchtinvasion in Kuba, während zum Beispiel die Grabenkämpfe innerhalb der Teamsters-Gewerkschaft mehr Raum einnehmen als nötig.

Irgendwann platzt der Film vor Informationen, die einem emotionalen Zugang zum Werk im Wege stehen. Wirkungsvoller sind da schon die vergleichsweise zu spärlich gesäten Charaktermomente, auf die The Irishman umso dringender angewiesen ist: Wenn Frank nachdrücklich versucht, den sturen Jimmy vor Unheil zu bewahren, dieser aber einfach nicht den Ernst der Lage versteht, können wir erahnen, warum dem von Reue geplagten Sheeran später am Telefon beinahe die Stimme versagt.

The Irishman von Martin Scorsese

"Schon" nach etwa 2 Stunden Laufzeit beginnt der geschwätzige The Irishman, seinen Tribut zu fordern. Wollte Scorsese erreichen, dass sich das Publikum ähnlich ausgelaugt fühlt wie am Ende auch Sheeran, hat er das eindrucksvoll geschafft. Gerne wäre ich bestürzt oder wütend oder zufrieden oder was auch immer über das Schicksal der Figur gewesen, doch dazu fehlte mir die Kraft.

The Irishman ist die Antithese zum MCU - und langweilt dennoch

Regisseur und Darsteller tun das, was sie erwiesenermaßen am Besten können. Nicht weniger, aber vor allem auch nicht mehr ist The Irishman. Im Rahmen seiner Kritik am MCU bemängelte Scorsese, die Superheldenabenteuer seien keine Erzählfilme und interessierten sich nicht für die conditio humana. The Irishman selbst hat das Problem, einerseits zu viel und andererseits zu wenig zu erzählen.

Zu einem "Kino menschlicher Wesen" nämlich wird Scorseses Netflix-Film so richtig erst im Finale, wenn wir für unsere Geduld endlich belohnt werden. Bis dahin übt sich The Irishman in kreativem Stillstand, wenn auch auf hohem Niveau. Was Robert Downey Jr. für das MCU ist, ist Robert De Niro für Martin Scorsese - am Ende hält jede Generation an dem fest, was sich für sie bewährt hat.

Habt ihr im Kino oder bei Netflix auch mit The Irishman gekämpft?

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