Marseille - Netflix' französischer Politthriller im Pilot-Check

05.05.2016 - 10:00 UhrVor 6 Jahren aktualisiert
Benoît Magimel und Gérard Depardieu kämpfen um die Macht.Netflix
0
2
Netflix bringt mit Marseille die erste vollständig in Europa produzierte Eigenkreation auf den Markt. Wir haben uns im Pilot-Check einen ersten Eindruck der Politserie mit Gérard Depardieu verschafft, die sich bereits im Vorfeld mit House of Cards messen musste.

Eine dicke Prise Koks im düsteren Hinterzimmer bedarf es, bevor Robert Taro (Gérard Depardieu), Bürgermeister von Marseille, sich im Fußballstadion Vélodrome der jubelnden Menge präsentieren kann. Seit 20 Jahren ist die Hafenmetropole sein Revier, er scheint auf dem Gipfel der Macht zu thronen. Ob er sich in dieser Position halten kann oder vom Thron gestürzt wird, werden die acht Episoden von Marseille zeigen. Das schauspielerische Urgestein Gérard Depardieu, seines Zeichens Steuerflüchtling, Winzer und Neu-Russe, besinnt sich auf seine französischen Wurzeln und verkörpert den Polit-Koloss Robert Taro. Eine Rolle, die ihm gut steht.

Mit Marseille stellt Netflix die erste vollständig in Frankreich produzierte Serie auf der eigenen Plattform zur Verfügung, nachdem der Streaming-Riese bisher lediglich als Financier und Koproduzent europäische Serien wie die norwegische Mafioso-Komödie Lilyhammer unterstützte. Frankreich ist ein Land mit einer florierenden Filmindustrie, das mit Produktionen wir The Returned auch schon selbst zum Serienboom beigetragen hat. Mit dem düster anmutenden Thriller will sich Netflix nun dazugesellen. Der Politzirkus als Kulisse der Dramenhandlung von Marseille scheint sich hervorragend als massentaugliches Testobjekt zu bewähren: Intrigen, Macht, Mord, Erpressungen und skandalöse Sex-Affären lassen sich in diesem Subgenre prima kombinieren und eröffnen dem Zuschauer Einblicke in diverse menschliche Abgründe. So ist es kein Zufall, dass sich die Story von Marseille mehr oder weniger an House of Cards orientieren soll, der US-Serie, die als allererste Eigenproduktion des VoD-Riesen in die Geschichte einging und das Erfolgskonzept von Netflix begründete. Mit diesem Vergleich wurde zumindest vom Vorfeld nicht sparsam umgegangen. Als Drehbuchautor wurde Dan Franck rekrutiert, der als Autor des mehrstündigen Terroristenepos Carlos - Der Schakal bekannt wurde.

Die Hauptstadt Südeuropas

Marseille, die titelgebende Metropole an der Küste Frankreichs, ist nicht nur eine der wichtigsten Häfen Europas, sondern diente in der französischen Filmgeschichte von Borsalino bis Taxi mehrfach als Schauplatz zwielichtigen Treibens. Das mag aber nicht der einzige Grund sein, den Politthriller nicht in der französischen Hauptstadt anzusiedeln. Marseille repräsentiert die Kluft zwischen Arm und Reich, Elends-Ghettos und mondäner Schickeria plakativer als ihre große Schwester Paris. Die sozial schwachen Bezirke sind nicht wie in Paris an die Peripherie gedrängt, sondern reihen sich zwischen noblen Boutiquen und schicken Villenvierteln ein. Kriminelle Machenschaften und mafiöse Strukturen zeichnen die Stadt ebenso wie die Marina mit ihren Luxus-Yachten. Florent Emilio Siri (Hostage - Entführt) inszenierte den Piloten zu Marseille und zeigt die Facetten sozialer Ungleichheit. Allerdings wirkt der rasche Wechsel von den Mamorhallen des Rathauses in die Sozialbausiedlung manchmal etwas holprig und zu sprunghaft aneinandergereiht.

Immobilien und Stadtplanung werden zum Streitpunkt und könnten den Stadtvorsteher Taro zum Fallen bringen. Kurz vor den anstehende Wahlen möchte der Bürgermeister den Bau eines Casinos im Hafen in die Wege leiten, um wohlhabende Gäste in die Stadt zu locken und Marseille vollmundig zur Hauptstadt Südeuropas zu deklarieren. Doch damit macht er sich viele Feinde, denn ein beträchtlicher Teil der Politiker lehnt dies ab, da das Casino die Mafia und Geldwäscher anziehen könnte.

Marseille

Solange er nicht beißt

Robert Taro hat das Ruder seit 20 Jahren in der Hand und ist nicht bereit, seinen Posten zu verlassen. Er liebt seine Machtposition genauso wie er seine Stadt liebt. Der stattliche Koloss ist ein Politiker der alten Schule. Hin und wieder stützt ein wenig Koks sein sicheres Auftreten, auf Alkohol verzichtet er vollständig. Er setzt auf Argumente und flotte Sprüche anstatt sich auf heikle Intrigen zu verlassen. Damit unterscheidet er sich von seinem Vergleichsobjekt Frank Underwood alias Kevin Spacey, der als ehrgeiziger Kongressabgeordneter an die Spitze der Macht will und jeden, der ihn stoppen könnte, ohne mit der Wimper zu zucken, mit einem beherzten Schubser vor die U-Bahn aus dem Weg räumt. Taro sitzt bereits auf dem Thron und möchte dort bleiben. Statt skrupelloser Intrigen nutzt er politisches Kalkül. Allerdings kann in sieben weiteren Episoden noch viel passieren.

Deutlich mehr kriminelle Energie legt Lucas Barrès (Benoît Magimel, bekannt aus Der Unbestechliche - Mörderisches Marseille und Kleine wahre Lügen) an den Tag. Als politischer Zögling Taros, der als Waisenkind aus dem sozial schwachen Norden Marseilles die Schattenseite der Stadt kennenlernte, weicht er diesem nicht von der Seite, seine treue Ergebenheit entlockt einem Abgeordneten den Kommentar, er verhalte sich wie ein Hund. Solange er nicht zubeiße, sei alles in Ordnung, entgegnet der lachende Taro. Schneller als ihm lieb ist, wandelt sich Barrès, der die nachrückende Generation von Politikern verkörpert, vom Dackel zum Bluthund. Während seine Handlager im Hintergrund unliebsame Gegner aus dem Weg räumen, rammt der seinem Mentor im entscheidenden Moment den Dolch in den Rücken.

Taro und

Dunkle Wolken über der Mittelmeer-Metropole

Der durchaus packende Pilot zu Marseille etabliert damit den Grundkonflikt, der die Handlung bestimmen wird. Taro ist verwundet, neben dem menschlichen Verrat durch seinen engsten Vertrauten muss er eine Schwächung seiner Macht verkraften. Ein frischer Wind weht durch die altehrwürdigen Hallen des Rathauses. Die junge Generation emanzipiert sich und macht unmissverständlich klar, dass sie vor Mord und Erpressungen nicht zurückschreckt. Eine anonyme Erpresser-Mail deutet an, dass Taro auf eine nicht ganz saubere Vergangenheit zurückblicken kann: Ein Ereignis aus den 70er Jahren macht ihn angreifbar.

Im Kampf um die Vorherrschaft wird es düster zugehen. Das verspricht zumindest der Auftakt zur Serie, der auch mit der ein oder anderen Actionszene lockt. Untermalt wird das Spiel um Macht von der eindringlichen Musik des oscarprämierten Komponisten Alexandre Desplat. Weiteres Konfliktpotenzial verspricht Taros Tochter Julia (Stéphane Caillard), eine spannende Figur, die als junge, ehrgeizige Online-Journalistin Karriere machen möchte (Ja, hier ist ein Zoe Barnes angebracht) und dazu den Namen ihres Vaters ablegte. Die elterliche Villa tauschte sie gegen eine hippieeske Wohngemeinschaft (inklusive Orgien auf dem Glasdach) und ungeklärte amouröse Verhältnisse verwickeln sie in die kriminelle Ghetto-Szene.

Ob der Vergleich mit dem Welterfolg House of Cards aufgeht oder überhaupt notwendig ist, sei einmal dahingestellt. Netflix' Schritt nach Europa und Frankreichs Versuch, mit einer weiteren hochkarätigen Serie zu punkten, sind gemacht.

Interessiert euch der Machtkampf an der Mittelmeerküste oder wartet ihr auf die nächste Staffel House of Cards?

Das könnte dich auch interessieren

Schaue jetzt Marseille

Kommentare

Aktuelle News