London Film Festival - Vorschau & erste Eindrücke

06.10.2015 - 08:50 UhrVor 8 Jahren aktualisiert
Beasts of No NationNetflix
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Am 7. Oktober ist es so weit: die 59. Ausgabe BFI London Film Festivals beginnt mit Suffragette. Für mich ist es die dritte Edition und die erste als Einwohner der britischen Hauptstadt. Hier gibt es eine kleine Vorschau und erste Empfehlungen.

Im Oktober 1953 wurde an der Londoner Southbank, etwa 10 Gehminuten vom britischen Parlament und seinem ikonischen Glockenturm entfernt, ein neues Filmfestival geboren. Endlich hatte auch London ein Kino-Event, das einer europäischen Metropole gerecht wird. Organisiert wurden die Feierlichkeiten vom British Film Institute (BFI) nach einem einfachen Konzept: die besten Filme der größten europäischen Festivals zum ersten Mal auf der Insel präsentieren.

Im Oktober 2015 hat sich das Festival im Kalender etabliert und gilt, neben Toronto, als einer der ersten Schlüsselmomente im Oscar-Rennen. Alles ist größer und glamouröser, doch die Grundidee bleibt die gleiche wie 1953. Das Programm stützt sich auf vorhergehende Festivals. Goldene Bären (Taxi Teheran), Palmen (Dämonen und Wunder - Dheepan), Leoparden (Right Now, Wrong Then) und Löwen (Desde allá) sind allesamt vertreten.

Das Programm - von Suffragette bis Jobs mit Zwischenstopp bei Carol

Im Londoner Aufgebot dürfte für jeden Geschmack etwas dabei sein - immerhin ist es 240 Spielfilme schwer und bietet vier verschiedene Wettbewerbe (Fiktion, Dokumentation, erster Spielfilm und Kurzfilm). Los geht’s mit einem historischen Drama: Suffragette. Der Film schildert den Kampf einer Gruppe Frauen für etwas, das heute allzu selbstverständlich scheint: das Wahlrecht. Carey Mulligan, Helena Bonham Carter und die unvergleichliche Meryl Streep standen für Sarah Gavron vor der Kamera. Es riecht nach Oscars.

Ein Preisträger ist bereits bekannt: Cate Blanchett. Die Australierin erhält ein BFI Fellowhip  und begibt sich damit in eine hohe Gesellschaft. Im diesjährigen Festival ist sie gleich mit zwei Filmen vertreten. In Truth spielt sie eine knallharte TV-Produzentin, doch die Hauptattraktion ist zweifellos Carol. Der Film des Kritikerlieblings Todd Haynes wird seit der Premiere in Cannes von den Fans des Auteurs gefeiert. Ob der Film mein Herz auch höher schlagen lässt, erfahrt ihr dann nach dem Festival.

Auch der Abschlussfilm wird eine Rolle in der unendlichen Awards-Season spielen. Steve Jobs wird bereits als heißer Kandidat beim Oscar für den besten Film, den besten Schauspieler (Michael Fassbender) und das beste Drehbuch (Aaron Sorkin verspricht gewohnt spritzige Dialoge und lange Korridore) gehandelt. Besser als die Ashton Kutcher-Version dürfte es allemal sein.

Neben diesen großen Highlights laufen unzählige Filme aus aller Welt. Eine komplette Liste ist zwecklos, doch auf die folgenden Streifen freue ich mich ganz besonders: Sunset Song, The Assassin, Office, High-Rise und The Witch.

Erste Highlights - Tangerine, Netflix und zwei Chilenen

In London beginnen die Pressevorführungen kurioserweise bereits drei Wochen vor der Eröffnungsfeier. Das bedeutet, dass ich bereits knapp 40 Filme des gigantischen Programms hinter mir habe. In einen dieser Filme habe ich mich verliebt: Tangerine von Sean Baker. Die Geschichte dreht sich um zwei einsame, transsexuelle Prostituierte und einen armenischen Taxifahrer an einem sonnigen Heiligabend in Los Angeles. Gedreht wurde das komplette Werk, aus finanziellen Gründen, auf einem Smartphone von einem fruchtigen Hersteller. Mit Amateurfilmen hat Tangerine allerdings nichts zu tun. Die satten Farben geben Los Angeles einen fast radioaktiven Look. Die Thematik lässt ein deprimierendes Sozial-Drama erwarten, doch es handelt sich um eine bittersüße, klassische Screwball-Comedy. Es gibt sogar eine empörte Schwiegermutti. Die Hauptdarstellerinnen Kiki Kitana Rodriguez und Mya Taylor explodieren förmlich auf der Leinwand. Ihre Energie und natürliches Talent für Comedy und Improvisation schwappen auf die Zuschauer über. Baker entdeckte die beiden in Los Angeles und entwickelte das Drehbuch mithilfe ihres Insider-Wissens über die Transszene in West Hollywood. Einen deutschen Starttermin gibt es für Tangerine leider noch nicht. Falls ihr die Gelegenheit habt, euch den Film anzusehen, solltet ihr ihn euch auf keinen Fall entgehen lassen. So habt ihr Los Angeles noch nie gesehen.

Ein anderer Film wird hingegen sehr bald in Deutschland zu sehen sein. Netflix-Abonnenten können sich ab dem 16. Oktober den ersten Spielfilm der Streaming-Plattform ansehen. Hierbei handelt es sich um Beasts of No Nation von Cary Fukunaga (True Detective, Sin Nombre). Irgendwo zwischen dem Wahnsinn von Apocalypse Now und der Poesie von Der schmale Grat befindet sich dieses Drama über einen Kindersoldaten in Nigeria. Der politische Hintergrund bleibt undeutlich, doch die Gewalt und die psychischen Folgen für alle Betroffenen sind real. Idris Elba entblößt eine belastete, komplexe Seele in der Rolle des Anführers. Auch wenn es ein wenig an Emotion mangelt, kann ich euch Beasts empfehlen. Ein starker Einstieg ins Filmgeschäft für Netflix.

Zum Abschluss möchte ich euch noch zwei Werke aus Chile, die beide im Februar bei der Berlinale zu sehen waren, ans Herz legen. Der Dokumentarfilm Der Perlmuttknopf von Patricio Guzmán wurde mit dem Silbernen Bären für das beste Drehbuch ausgezeichnet. Der Regisseur kehrt zu den Fragen, die er in Heimweh nach den Sternen - Suche nach dem Ursprung unseres Lebens im Weltall aufwirft, zurück und entführt auf eine persönliche Reise in die Vergangenheit, ins Weltall und in die Philosophie. Verschiedene Themen werden auf eine Grundidee zurückgeführt: Wasser. Das Meer dient als Lebensraum für die Ureinwohner im Süden Chiles, bevor es vom Diktator Augusto Pinochet in einen Friedhof verwandelt wurde. Auch im Weltall entdecken die chilenischen Sternwarten täglich Wasser. Die Kombination von persönlicher Erfahrung, Politik, Geschichte, Wissenschaft und Metaphysik erinnert an Werner Herzog, doch Guzmán zeigt sich deutlich optimistischer. Ab dem 10. Dezember könnt ihr euch Der Perlmuttknopf in den deutschen Lichtspielhäusern ansehen.

Auch Pablo Larraín ging in Berlin nicht leer aus. El Club, der am 5. November in Deutschland startet, gewann den Großen Preis der Jury. Eine "Seniorenresidenz" für straffällige Priester steht im Mittelpunkt der Geschichte. Pädophile und Menschenhändler werden von der katholischen Kirche in ein trostloses Haus an der chilenischen Küste verfrachtet, wo sie den Rest ihrer Tage nach strikten Regeln verbringen. Nach einem tragischen Zwischenfall taucht ein junger Priester auf, der den Haushalt aus dem Gleichgewicht bringt. Doch auch die progressiven Ideen des Geistlichen werfen moralische Fragen über die Modernisierungsversuche der Kirche auf. Die Atmosphäre ist von der ersten Szene an extrem betrübend, doch ein pechschwarzer Sinn für Humor kommt immer wieder zum Vorschein. Falls ihr euch für die Kirche interessiert und/oder Am Sonntag bist du tot mochtet, solltet ihr euch El Club auf keinen Fall entgehen lassen.

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