Ich, Chinatown & Jack Nicholsons kaputte Nase

03.08.2012 - 08:50 UhrVor 12 Jahren aktualisiert
Chinatown
Paramount
Chinatown
Film Noir hat es mir schon seit je her angetan, nicht erst seit meiner Doktorarbeit. Deshalb liegt es nahe, dass ich mir mit Roman Polanskis Chinatown direkt einen davon für die Rubrik Mein Herz für Klassiker aussuche.

Der Film Noir war niemals tot. Gerüchte über seinen Niedergang sind stark übertrieben. Unvergessliche düstere Klassiker hat es in allen Jahrzehnten seit dem Höhepunkt des Genres in den 1940er und 1950er Jahren gegeben. Einer davon ist Chinatown von Roman Polanski von 1974, dem ich heute Mein Herz für Klassiker schenke. Der Film erinnert an vergangene Zeiten und an Highlights des Film Noir. Chinatown spielt im Los Angeles des Jahres 1937 und greift auf die historischen Auseinandersetzungen um Wasserrechte im Südkalifornien in den 1910ern und 1920ern zurück. Doch kurz zum Inhalt…

Der undurchsichtige Privatdetektiv J.J. ‘Jake’ Gittes (Jack Nicholson) bekommt von Evelyn Mulwray den Auftrag, ihren Mann Hollis auszuspionieren. Als Architekt des Wasserversorgungssystems der Stadt steht Mulwray im Zentrum der öffentlichen Diskussionen. Eigentlich soll Gittes ihn nur des Ehebruchs überführen. Bald stellt sich heraus, dass Jake einer Betrügerin aufgesessen war. Die echte Evelyn (Faye Dunaway) taucht in seinem Büro auf und konfrontiert ihn. Kurz danach wird Mulwray tot aufgefunden. Gittes verfängt sich in einem Netz aus Lügen, Intrigen und Skandalen, in dem gleich mehrere ungelöste Rätsel auftauchen. Wer hat Mulwray auf dem Gewissen? Was hat Evelyn zu verbergen? Welche Rolle spielt die Wasserversorgung der Stadt hierbei? Und was hat Evelyns Vater Noah Cross (Regielegende John Huston), der vermögende, aber zwielichtige frühere Partner von Mulwray, mit der ganzen Sache zu tun?

Warum ich Chinatown mein Herz schenkte
Chinatown hat für mich alles, was ein guter Film Noir braucht: eine faszinierende Kriminalgeschichte, ein düsteres, korruptes Los Angeles der 1930er Jahre, eine ebenso attraktive wie unberechenbare Femme fatale in Faye Dunaway und einen grandios aufgelegten Jack Nicholson in einer seiner Paraderollen. Die ungesunde Welt mit ihren zweifelhaften Charakteren hat mich gleich eingesogen. Zwar kommt Chinatown optisch nicht so dunkel daher wie andere Noirs, ist aber deshalb nicht weniger beklemmend. Gittes als Antiheld erinnert mich teilweise an legendäre Ermittler wie Sam Spade aus John Hustons Die Spur des Falken oder Mike Hammer aus Rattennest von Robert Aldrich. Er ist vielleicht nicht so brutal bei den Maßnahmen, die er ergreift. Dennoch passt Jake wie die Faust aufs Auge – oder vielmehr auf die Nase – in diese amoralische Umgebung. Trotz seiner Coolness hinterlässt er anfangs einen eher stümperhaften Eindruck. Wir können uns mit ihm identifizieren, denn Gittes gibt nicht auf. Er bleibt am Ball – und alle finsteren Geheimnisse kommen in einem grandiosen Finale während einer Nacht in Chinatown zum Vorschein.

Warum auch andere Chinatown lieben werden
Die leicht befremdliche Welt, in die Roman Polanskis perfekte Inszenierung den Zuschauer vom ersten Moment an verfrachtet, ist der offensichtlichste Grund. Was passiert hier? Wem können wir vertrauen? Trotz der Sonne Kaliforniens scheint das Böse überall zu lauern, und Jake ist weder heldenhaft noch moralisch. Einerseits tappt er selbst lange im Dunkeln. Andererseits ist er ein Opportunist, der nur versucht, in seiner korrupten Umwelt zu überleben. Dennoch ist er noch am ehesten der Sympathieträger in der Geschichte. Jack Nicholson versteht es wie kein zweiter, einem eigentlich abgehalfterten Charakter eine gewisse Coolness zu verpassen. Gittes ist ein Prügelknabe, mutiert jedoch zu einem echten Stehaufmännchen. Trotzdem kann er die Tragödie am Ende nicht verhindern, egal wie sehr er es versucht. Die Geschichte könnte fast aus dem Leben gegriffen sein.

Warum Chinatown einzigartig ist
In seinem letzten Hollywoodfilm führt Roman Polanski seine Hauptfigur wie die Zuschauer sprichwörtlich an der Nase herum. Ständig ändert sich die Ausgangslage. Wir rennen mit Jake den Hinweisen hinterher, ohne jedoch zunächst so recht auf den Trichter zu kommen, was Sache ist. Gittes weiß nicht mehr als wir, während er sich durch das Zwielicht kämpft. Er kommt nur dadurch zurück auf die Fährte, weil ihm jemand einen Hinweis zusteckt, nicht weil Gittes ein genialer Spürhund à la Sherlock Holmes ist. Seine kaputte Nase macht ihn in mehrfacher Hinsicht zum unfähigen Schnüffler. Faye Dunaway leistet ihr Übriges, um sowohl Jake als auch uns zu verwirren und gleichzeitig in ihren Bann zu ziehen. Sie und Jack Nicholson sind in großartiger Spiellaune. Beide waren damals auf einem Höhepunkt ihrer Karriere, wurden zurecht 1975 für Oscars nominiert und gewannen kurz darauf ihre ersten Academy Awards für andere Rollen.

Warum Chinatown die Jahrzehnte überdauerte
Es gibt einige andere (Neo-)Noirs aus der gleichen Zeit, die heute als Klassiker gelten – allen voran Taxi Driver. Chinatown jedoch setzt sich von ihnen ab, weil der Film eine klassische Kriminalgeschichte ist, die extrem spannend erzählt wird. Erstens ist er als Hommage an die Thriller von Autoren wie Dashiell Hammett und Raymond Chandler zu sehen. Zweitens ist die Story zeitlos. Der Kampf um Wasser ist weiterhin aktuell. Chinatown ist an sich sehr realistisch. Selbst Jack Nicholson, der ein Faible für gelegentlich übertriebene Darbietungen hat, wirkt hier beinahe bodenständig. Roman Polanskis Opus wurde 1991 von der Library of Congress als erhaltenswerter, weil kulturell, historisch und ästhetisch wichtiger Film eingestuft. Neben den beiden Hauptdarsteller erhielt der Opus 1975 Nominierungen für Oscars in neun weiteren Kategorien, auch wenn er letztlich nur einen Oscar gewann. Roman Polanski verließ danach aufgrund eines Sexskandals mit einer Minderjährigen die USA und ist bis heute nicht nach Hollywood zurückgekehrt.

Was sagt ihr zu Chinatown?

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