Heftiger Action-Albtraum lässt Publikum massenweise aus Kino fliehen – sowas hat man noch nie gesehen

10.09.2023 - 19:30 Uhr
Aggro Dr1ft
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Aggro Dr1ft
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Ein Killer-Albtraum zwischen GTA und Scarface trieb mit einer simplen Story bei den Filmfestspielen von Venedig massenweise Zuschauende aus dem Kino. Zu Recht?

Das Filmfestival von Cannes rühmt sich seiner Buh- und Jubelrufe, bei der Konkurrenz von Venedig fallen die Reaktionen dagegen getragener aus. Meine These: Das desaströse Nahrungsangebot auf der Festival-Insel wurde absichtlich so vitaminarm gestaltet (Ausschnitt aus der Speisekarte: längliches Brötchen, quadratisches Brötchen, kreisförmiges Brötchen, Aperol Spritz). So wird die Kritikerschaft im Verlauf von 10 Tagen heruntergewirtschaftet, damit sie die dürftigen Filme am Ende des Festivals willenlos herunterschluckt.

Bevor ich aufgrund meiner Kohlehydrat-induzierten Gehirnschmelze vom Thema abkomme: Spring Breakers-Regisseur Harmony Korine hat einen neuen Film mit dem kühlen Titel Aggro Dr1ft gedreht. An der Croisette wäre er zwischen ekstatischen Buhrufen und Gegen-Jubel in den Abspann gedriftet. In Venedig wurde weniger verbal abgestimmt, sondern archaisch: mit den Füßen.

In der ersten halben Stunde meiner Pressevorführung von Aggro Dr1ft verließen massenweise Zuschauende den Saal, bei anderen Screenings habe sich ähnliches abgespielt, hört man. Ist Aggro Dr1ft also die unerträgliche Provokation, die solche Reaktionen versprechen?

Aggro Dr1ft sorgt mit seinem Look für einen außergewöhnlichen Farbrausch

Die Story liest sich platt wie eine Flunder: Der beste Auftragskiller der Welt (sagt er (sehr oft)) geht seinem Tagwerk in Miami nach und sorgt sich daheim um Frau und Kinder. Für den Befreiungsschlag aus dem mörderischen Trott muss er einen monströsen Boss/Endgegner umbringen.

Aufsehenerregend ist der fluoreszierende Look, denn Aggro Dr1ft wurde mit Wärmebildkameras aufgenommen. Jede Szene leuchtet in den Jagdfarben der Predator-Perspektive. Statt Gesichter wabern ausdruckslose Schemen durchs Bild, statt Augen bläuliche Eiskristalle, die leer durch die Vaporwave-Nächte von Miami stieren. Aggro Dr1ft ist ein bombastischer Farbrausch, der sich, wenn nicht revolutionär, so doch rebellischer und herausfordernder anfühlt, als das meiste, was man in handelsüblichen Kinosälen zu sehen bekommt.

Aggro Dr1ft

Ich kann nicht behaupten, dass die Farben einen 80 Minuten lang bei Laune halten, aber sie machen einen Großteil des Reizes von Harmony Korines neuem Film aus. In Sachen Erzählung behandelt Korine sein Publikum nämlich wie eine transplantierte Gliedmaße, die er abzustoßen gedenkt.

Der Action-Albtraum macht es seinem Publikum nicht leicht

Was so einige im Publikum in die Flucht getrieben hat, ist vermutlich nicht der Look, sondern die Plattitüden übers Killer-Dasein, die Hauptdarsteller Jordi Mollà in den Mund gelegt werden. Das pathetisch aufgeblasene Gelaber wird in Aggro Dr1ft gebetsmühlenartig wiederholt, bis von der Bedeutung nur noch die monotone Sprachmelodie auf der Tonspur übrigbleibt. Das hilft nicht gerade beim Wachbleiben (ich kämpfte in der Spätvorstellung mit meinen kiloschweren Augenlidern).

Andererseits entwickelt Aggro Dr1ft durch die Macker-Mantras, das Gangsta-Posing und die Tatsache, dass sich 90 Prozent der Figuren wie GTA-NPCs verhalten, seinen eigenen Humor. Wer das, was hier passiert, ernst nimmt, hat die frühzeitige Kinoflucht verdient.

Korine kreiert mit den Mitteln von Videospielen, Kino und Musikvideo einen durch und durch klischeehaften Gewalt-Exzess, der sich mit jedem dramatischen Atemzug selbst belächelt. Darin ähnelt der Film einer anderen überstilisierten Unterwelt-Story Floridas: Brian De Palmas Scarface.

Ermüdend und aufregend, viel zu ernst und urkomisch ist Aggro Dr1ft, ein perverser Gottesdienst mit Travis Scott als Messdiener und einer Uzi auf dem Altar. Man muss diese 80-minütige Erfahrung mindestens einmal ertragen haben, zumindest wenn man Film als mehr betrachtet, denn nur als Geschichten-Fließband. Ist das die Zukunft des Mediums? Wen interessiert's, es ist ein Lebenszeichen.

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