Grenzgang – die Unausweichlichkeit des Scheiterns

27.11.2013 - 08:50 UhrVor 10 Jahren aktualisiert
Grenzgang
ARD
Grenzgang
8
4
Grenzgang, die TV-Verfilmung des Debütromans von Stephan Thome, überrascht als sensibles Fernsehmelodram. Claudia Michelsen und Lars Eidinger spielen darin zwei einsame Seelen, die aus beruflichem wie privaten Scheitern neue Kraft schöpfen.

Kritiker, so ließ der WDR-Fernsehfilm-Redakteur Michael André verlautbaren, würden am deutschen TV-Filmbetrieb immer wieder einen „Erzählnotstand“ und „fehlende literarische Qualitäten“ bemängeln. Das Liebes- und Familiendrama Grenzgang, eine Produktion des West- und Norddeutschen Rundfunks sowie der mittlerweile umstrukturierten teamWorx GmbH, hingegen widerlege „ein solches Urteil als Vorurteil“. Nun ginge eine Grundsatzkritik am (öffentlich-rechtlichen) Fernsehfilm darüber freilich weit hinaus, sie muss ja überhaupt stets das ganze System aus künstlerischen Vorgaben und damit eklatanten Beschränkungen überprüfen. Und es scheint natürlich denkbar charakteristisch für den konzeptionellen Zugriff auf jedwedes TV-Material, wenn Michael André hier in der Adaption des gleichnamigen Romans von Stephan Thome eine besondere Herausforderung schon darin sieht, dass sich die Liebesgeschichte nicht so entwickle, „wie es in klassischer Fernsehdramaturgie vorgesehen ist“. So steht es im Presseheft geschrieben.

Sacht und zärtlich
Grenzgang ein außerordentliches Wagnis zu nennen, wäre gewiss zuviel des Guten. Doch selbst im Rahmen eines vergleichsweise experimentierfreudigen Sendetages, den die ARD schlicht ihren „Filmmittwoch im Ersten“ taufte, nimmt die Romanadaption der Regisseurin und Schauspielerin Brigitte Bertele eine bemerkenswert atypische Position ein. Da ist zunächst, fast repressionsfrei, eine narrative Struktur, deren so gar nicht lineare, sondern von den Begehrlichkeiten der Figuren bestimmte Erzählweise den sonst freimütig unterstellten Konzentrationsproblemen des Publikums zuwiderläuft. Mehrfach etwa wechselt der Film die Zeitebenen, ohne dies visuell demonstrativ zu konturieren, und überhaupt vermittelt er die Geschichte zweier einsamer Menschen im Mittelklasse-Mief einer hessischen Provinz sacht und zärtlich, beinahe assoziativ. Ohne wütend steppenden Erklärbären, ohne jedes dargestellte Gefühl dolmetscherisch zertrampeln zu müssen. Ein Fernsehfilm zur Primetime, der sich – wenn auch vorlagenbedingt – tatsächlich elliptisches Erzählen genehmigt.

Eine ganz schön schlechte Figur
Dabei hat Drehbuchautorin Hannah Hollinger den 2009 erschienenen Debütroman von Stephan Thome dramaturgisch bereits deutlich entschlackt und fernsehgerecht 90minütig aufbereitet. Dessen vier zeitliche Ebenen stutzte sie auf zwei, das 28 Jahre umfassende Erzählgeflecht bleibt nun überschaubar in der Gegenwartshandlung, aus der der Film immer wieder in sieben Jahre vergangene Ereignisse zurückblickt. Damals kehrte Thomas Weidmann (Lars Eidinger) frustriert in seinen Heimatort Bergenstadt zurück, nachdem die Berliner Universität seine Habilitationspläne vereitelte. „So, Mann genug?“, lautet dessen erster Satz im Film, als er das Uni-Institut vor Enttäuschung buchstäblich anpinkeln musste. Zu dieser Anfangsszene, einem Moment aus gar nicht ferner Vergangenheit, kehrt Grenzgang nach halber Lauflänge noch einmal zurück. „Weißt du, dass du gerade auf dem besten Weg bist, eine ganz schön schlechte Figur abzugeben?“, prophezeite Freundin Konstanze (Melika Foroutan) da schon das Schicksal des unglückseligen Lehrers in spe, bevor er seinen Rückzug in die Heimat antrat. „Du bist der einzige Beweis dafür, dass ich noch liebenswert bin.“, wird Thomas es ihr später einmal danken.

Für das Zaudern und den Zorn
Die Rückkehr zum Ursprung, in die beschauliche Provinz, sie muss wohl im Leben wie auch im Fernsehfilm immer als Niederlage, als Zeichen einer Identitätskrise gewertet werden. Und Bergenstadt, in Wirklichkeit Biedenkopf nahe Marburg, ist mit seinem alle sieben Jahre veranstalteten historischen Heimatfest, das Buch und Film zum mehrdeutigen Titel inspirierte, wohl der ansprechend triste Ort für all das Zaudern und den Zorn. Hier, wo bitterliche Gefühlskälte allerhöchstens siebenjährlich zum kollektiven Marsch der Männergesellschaften und Burschenschaften zu verschwinden droht, verhalten die Menschen sich „artgerecht“, wie Schuldirektor Granitzny (Hanns Zischler) einmal zynisch behauptet. Diese Grenzgänge, drei sind es in der Vorlage, verdichten sich im Film nun zu einem vergangenen und einem bevorstehenden. Auch für Kerstin Werner (Claudia Michelsen), deren Ex-Mann Jürgen (Harald Schrott) sich eifrig auf das nahende Volkfestritual vorbereitet, bedeutet der traditionelle Grenzgang, die zurückliegenden sieben Jahre Revue passieren zu lassen. Genau wie Thomas sehnt sich die vorübergehend nicht berufstätige Theaterpädagogin nach Bestätigung, Zuneigung, körperlicher Liebe.

Verschwiegen-schmerzliches Genre-Sentiment
Kerstins Sohn Daniel (Sandro Lohmann) möchte zu seinem Vater ziehen, Mutter Liese (Gertrud Roll) ist schwer demenzkrank und pflegebedürftig. „Er ist nicht verkorkst, er ist nur 16“, kann Thomas immerhin die Sorge um ihr Kind auffangen, als beide sich nach mehrfachen Begegnungen, darunter auch in einem Swingerclub, endlich persönlich näher kommen. Von Lars Eidinger und insbesondere Claudia Michelsen ist das großartig, auf den Punkt genau gespielt. Im sehnsüchtigen Aufeinandertreffen ihrer beiden Hauptfiguren ist Grenzgang, eben in den stärksten Momenten, ganz dicht am stillen, verschwiegen-schmerzlichen Genre-Sentiment: Wieder einmal bezieht das Melodram alle Kraft aus der Unausweichlichkeit des Scheiterns und der vorsichtigen Annäherung seiner Liebenden. Entsprechend vordergründig, geradezu wesentlich gefühlsbetont sind der Soundtrack, sonst eines der generischsten Gestaltungsmittel deutscher Fernsehfilme, und auch ein ebenso exakter Schnitt. Das ist schon wirklich, zumindest im Kontext dessen, was die ARD ihren Zuschauern für gewöhnlich zur besten Sendezeit vor den Latz programmiert, ein sehr sehenswerter Film.

Grenzgang. Mittwoch, 27. November 2013, 20:15 Uhr im Ersten.

Das könnte dich auch interessieren

Angebote zum Thema

Kommentare

Aktuelle News