Vor 30 Jahren erschien ein atemberaubendes Sci-Fi-Meisterwerk: Dieser clevere Cyberpunk-Film inspirierte sogar Matrix

19.11.2025 - 09:39 UhrVor 4 Tagen aktualisiert
Ghost in the Shell
Nipponart
Ghost in the Shell
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Es ist schon drei Jahrzehnte her, dass die Sci-Fi-Welt um einen Cyberpunk-Geniestreich erweitert wurde, der heute noch zu den cleversten und ästhetischsten Genre-Vertretern zählt.

Happy Birthday, Ghost in the Shell! Damit meinen wir allerdings weder die quietschfidele Manga-Vorlage*  von Masamune Shirow, noch den vielgeschundenen US-Realfilm mit Scarlett Johansson. Virtuelle Kerzen auf der Cyber-Torte ausblasen darf stattdessen Mamoru Oshiis geniale Anime-Filmadaption, die am 18. November 1995 in die japanischen Kinos kam. Ein amtliches Cyberpunk-Meisterwerk voller Gegensätze, das mit seinen vielen Lesarten heute noch relevanter ist als damals – und aktuellen Sci-Fi-Filmen so manchen Schritt voraus scheint.

30 Jahre Sci-Fi-Action und Cyberpunk-Philosophie mit Ghost in the Shell

Ghost in the Shell ist ein Film über genau das, was auf der Packung steht: Bewusstsein und Körper, Geist und Hülle. Die imaginierten Leiber dieser technologisch hochentwickelten Welt sind Teil einer zu Ende digitalisierten Gesellschaft an der Schwelle zu etwas noch Neuerem, dessen Chancen und Risiken kaum zu orakeln sind. Moderne Sci-Fi-Filme würden an dieser Stelle vor dem Einfluss korrupter Mega-Corporations oder Regierungen warnen. In Ghost in the Shell ist dieser Dystopie-Drops längst gelutscht. Stattdessen werden ganz große Fragen über die menschliche Existenz auf die Leinwand geworfen – und zwar zutiefst ergreifend, ohne dabei große Emotionen zur Schau zu stellen. Doch da hören die faszinierenden Kontraste nicht auf.

Zu traditionellen statt elektronischen Klängen von Komponist Kenji Kawai wird zu Beginn der Cyborg Major Motoko Kusanagi (Atsuko Tanaka) in den Film geboren. Eine Agentin der Anti-Cybercrime-Einheit Section 9 mit künstlichem Körper und biologischen Gehirnzellen, die durch ihre Beschaffenheit die Eigenschaften zweier Welten in sich vereint. Nicht selten im Film lässt sie ihre Hüllen fallen, um etwa bei Missionen ihre Camouflage-Technologie zu verwenden. Doch nutzt der Film das kaum, um seinen Sexappeal zu erhöhen. Ghost in the Shell zeigt Körper in nüchternster Objektivität als anatomische Maschinen. Trotz allerlei Nacktheit und Körperlichkeit wirkt er deshalb kein Stück erotisch oder sexuell.

Ich funktioniere, also bin ich ...

Der Major besitzt ein menschliches Bewusstsein aka Ghost, wird aber von ihrem Status als größtenteils künstliche Cyborg-Frau verunsichert. Ihr Kollege Batou (Akio Otsuka) tut diese Bedenken an einer Stelle ab, da man sie wie einen Menschen behandle und es somit keinen Unterschied mache. Klingt ganz so, als wäre ihr menschlicher Partner, der selbst nur über ein paar Augmentierungen am Körper verfügt, bestens mit dem Philosophen Jacques Lacan vertraut, der unter anderem von Identitäten sprach, die erst durch Kontext geschaffen werden. Überhaupt ist der Film nur so gespickt mit lacanischen Konzepten, die viel relevanter erscheinen, als die offensichtlich religiösen Anspielungen.

Diese Furcht vor Identitätsverlust ließ sich im Japan der 90er leicht auf vorgefertigte Gesellschaftsrollen wie den Salaryman-Bürohengst übertragen. Im heutigen Kontext kommen ähnliche Bedenken zu entmenschlichenden Jobs im Spätkapitalismus und die Ungewissheit einer KI-konsumierten Kultur in den Sinn. Ähnlich ungewiss wird in die Zukunft von Ghost in the Shell geblickt, wenn Kusanagi am Ende mit dem Puppet Master genannten Hacker verschmilzt. In Wahrheit ein geheimes KI-Projekt, sucht das online erwachte Bewusstsein nach einem komplementären Geist, mit dem es sich anstelle von biologischer Fortpflanzung vereinen kann.

Am Schluss bleibt die Frage: "Wohin geht das Neugeborene von hier aus?", die ebenso unbeantwortet bleibt, wie die über das enigmatische Sternenkind am Ende von 2001: Odyssee im Weltraum. Haarsträubend eigentlich, dass einige diesen Film trotz dieser eingebauten Ambivalenz als Plädoyer für uneingeschränkt entfesselte Technologieoffenheit bis hin zum Transhumanismus beanspruchen wollen, wenn das Spannungsfeld der Ungewissheit so viel mehr zu bieten hat.

Dystopischer Cyberpunk-Chique: Die Schönheit von Ghost in the Shell

Als Cyberpunk-Titel verdankt Ghost in the Shell auf geistiger Ebene dem bahnbrechenden Roman Neuromancer von William Gibson so einiges. Im visuellen Bereich stand Ridley Scotts Blade Runner in vielerlei Hinsicht Pate. So weit, so offensichtlich. Nur, dass Mamoru Oshiis Anime-Film seine Dystopie fast noch realistischer zeichnet. Mit ausgewaschenen Farben einer maroden Infrastruktur, deren unverhoffte Schönheit man im Harschen suchen muss. Oshii findet diese Ästhetik nicht nur, er liebkost diese Härte mit einer ebenso nachdenklichen wie romantischen Inszenierung. Als wären grauer Regen auf verrosteten Werbeplakaten und Glasscherben, die auf einen Sci-Fi-Panzer prasseln, Höhepunkte der Anmut. Was sie, nur fürs Protokoll, in diesem Fall auch sind.

Ghost in the Shell - Trailer (English) HD
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Ghost in the Shell beflügelte wiederum spätere Sci-Fi-Projekte. Als die Wachowskis etwa ihren Sci-Fi-Hit Matrix drehten, zählte Ghost in the Shell zu den großen Inspirationsquellen, die sie ihren Stars sogar als Anime-Hausaufgaben mitgaben. Sowohl, was Ideen, wie das geistige Abtauchen ins digitale Netz angeht, als auch konkrete Action-Momente und -Gesten, sowie die schwarz-grüne Code-Ästhetik der Credits. Jahre später offenbarte man Neos Cyber-Märchen als Trans-Allegorie, was sich in Welten voller augmentierter Körper und wandelbarer Digital-Identitäten auch jenseits der allegorischen Ebene anbietet. Ein fluides Gender-Konzept, das sich schon in Ghost in the Shell finden lässt, wenn der Puppet Master mit tiefer männlicher Stimme einen ausgesprochen weiblichen Körper kapert.

Ein Fest von einem Cyborg-Manifest

In den letzten 30 Jahren erschienen viele weitere Projekte mit dem Titel Ghost in the Shell heraus. Mit Innocence sogar ein direktes Sequel von Mamoru Oshii und demnächst kommt eine neue Serien-Adaption des Mangas auf uns zu. Der Anime-Film von 1995 bleibt jedoch unerreicht in seiner andächtigen Ästhetik und zärtlichen Nachdenklichkeit. Während andere Sci-Fi-Filme einen über den Kopf hauen mit ihren Konzepten, aus Angst das Publikum könnte auch nur eine clevere Idee verpassen, steht Ghost in the Shell wie ein schüchterner Partygast mit leise hervorgebrachten Denkanstößen in der Ecke, nippt schüchtern an seinem Drink und räuspert sich gelegentlich.

Streamen könnt ihr Ghost in the Shell aktuell beim Amazon-Kanal Lionsgate+ in der Flat, ansonsten als Leih- und Kauftitel bei den üblichen Stellen.

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