China - Was passieren kann, wenn ein Land keine Altersfreigaben besitzt

10.07.2018 - 08:00 UhrVor 3 Jahren aktualisiert
FSK - Index - Zensur
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Der bald größte Filmmarkt der Welt hat noch immer keine vernünftige Altersfreigabe. Wir blicken im FSK-Special auf China und die Frage, was ein fehlendes Freigabesystem für Folgen haben kann.

Bald soll es so weit sein. In Sachen Einspielergebnis soll die Volksrepublik China die USA überholen und zum größten Filmmarkt der Welt werden. In dem Land werden noch immer täglich 25 neue Kinos gebaut (SCMP ). Hollywood-Blockbuster wie Ready Player One oder Pacific Rim 2 suchen ihre schwarzen Zahlen in China, während die dortige Filmindustrie alle paar Sommer Einspielrekorde bricht. Bald zwei Jahrzehnte hat dieser Boom auf dem Buckel. Trotz ebenso alter Ankündigungen gibt es jedoch kein System der Altersfreigabe in dem Land. Der chinesische Staat hat es nicht vollbracht, Freigaben einzuführen, obwohl die Filmindustrie expandiert. 1,6 Milliarden Tickets wurden letztes Jahr verkauft. Dabei dürfen Kinder alles sehen - außer die Willkür der Zensur greift vorher ein. Anlässlich unseres Specials FSK - Index - Zensur blicken wir auf China, in dem zaghafte Hinweise auf verstörende Inhalte bislang das höchste der bürokratischen Gefühle sind, während Teile der Industrie nach transparenten Altersfreigaben für alle Filme verlangen. Gute Gründe für die Einführung eines Freigabe-Systems gibt es nämlich genug - aber auch ein entscheidendes Gegenargument.

Wie steht es mit der Altersfreigabe von Filmen in China?

Als Logan - The Wolverine 2017 in den chinesischen Kinos anlief, war er der erste seiner Art. Als erster Film nämlich enthielt der Abschied von Hugh Jackmans Wolverine einen neuen Hinweis, dass der folgende Film für junge Zuschauer physisch oder mental unangenehm sein könnte (Sixth Tone ). Logan, der in Deutschland eine FSK-Freigabe ab 16 erhielt und in den USA ein R-Rating, gehört zu den brutalsten der großen Studio-Superheldenfilme. Die Abwesenheit einer Altersfreigabe in China bedeutet jedoch nicht, dass es sich dort um ein Paradies ungekürzter Brutalität für die Augen von 10-Jährigen handelt. Logan wurde in China um fast 20 Minuten gekürzt (SCMP ). Das ist eine der Folgen in einem Land, wo Filme mangels Freigabe-Vorgaben für alle Altersgruppen gleichermaßen zugänglich sind. Insbesondere Filmimporte trifft das, die, wie Logan, mit Blick auf die Richtlinien des heimischen Systems produziert und vor der Auswertung in China auf dessen intransparente Zensur treffen. Denn während Logan stark gekürzt wurde, schaffte es der Kriegsfilm Hacksaw Ridge weitgehend unbeschadet in die Kinos, von heimischen Kriegsfilmen ganz zu schweigen.

Mehr: FSK - Index - Zensur: Ist das noch zeitgemäß?

Bereits in den späten 1980er Jahren, als sich die Filmindustrie nach der wirtschaftlichen Öffnung mauserte, wurde durch chinesische Behörden die Einführung eines Freigabe-Systems angekündigt. In den folgenden Jahrzehnten wiederholten sich die Ankündigungen - ohne reelle Folgen. Dabei mehrten sich die Stimmen aus der Industrie für die Altersfreigaben, während Berichte die Runde machten von Eltern, die ihre Kinder in für sie ungeeignete Filme brachten. 2014 sorgte ein Kino in Urumqi, in der Provinz Xinjiang, für Aufsehen. Dessen Betreiber erließ nach amerikanischem Vorbild PG-13- und G-Ratings für chinesische und Hollywood-Filme (Variety ). Andere taten es ihm gleich.

Ein chinesisches Poster für Auslöschung mit "R"-Warnhinweis für Eltern

Erst im März 2017 folgte eine Reaktion von Seiten des Staates. Im ersten chinesischen Filmgesetz wurden unter anderem Warnhinweise für Inhalte vorgeschrieben, welche Jugendliche und Kinder verstören könnten (China.org ). So wurde der Sci-Fi-Thriller Auslöschung mit Natalie Portman nach Logan der zweite Film, der einen entsprechenden Hinweis enthielt, diesmal sogar auf einem offiziellen Poster. Darauf wurde empfohlen, dass Jugendliche unter 17 Jahren den Film nur in Begleitung ihrer Eltern sehen dürfen.

Wann greift die Zensur in China ein?

Statt eines klar nachvollziehbaren Systems von Richtlinien für verschiedene Altersgruppen gibt es in China Zensurbehörden, deren Namen über die Jahre wechseln, deren vermutete Richtlinien aber relativ konstant bleiben. Neben politischen Inhalten sorgen diese sich besonders um die Moral der Nation. Filme werden darauf abgeklopft, ob sie mit den Werten der Verfassung übereinstimmen. Bei nackter Haut setzt vielfach die Schere an, was im Fall von Ang Lees Erotikthriller Gefahr und Begierde 2007 zum zeitweisen Berufsverbot für Schauspielerin Tang Wei und herausgeschnittenen Sexszenen führte. Fußnote der chinesischen Filmgeschichte: Ein Student richtete eine Klage gegen die damalige Zensurbehörde SARFT, weil die Schnitte dem künstlerischen Aspekt des Films geschadet hätten. Schadensersatzwunsch: 67 Dollar. (Reuters )

Slimer darf die chinesischen Kinos nicht vollschleimen

Weitere verbotene Inhalte: Die Verherrlichung von Verbrechen und Drogen, fundamentalistische Religiosität, überbordender Horror und exzessive Gewalt (GB Times ). Während chinesische Filmemacher bereits in der Drehbuchphase mit den Anforderungen konfrontiert werden, stehen ausländische Filme nach Fertigstellung einem moralischen Überraschungsei gegenüber. So erhielt das Remake Ghostbusters in China keinen Verleih, weil es durch die Präsenz der Geister Aberglaube fördere.

Was spricht für die Einführung einer Altersfreigabe in China?

"Kann denn nicht wenigstens einer an die Kinder denken!", sei hier der Form halber in die Welt herausgeschrien. Abgesehen von Kindern, die auch neben ihren Eltern von dem Todesschreie-Wildschwein in Auslöschung verstört werden dürften, sprechen pragmatische Argumente für ein System der Altersfreigabe in China. Chinesische Firmen könnten ihre Filme auf den Export besser abstimmen. Beim Verkauf von Filmrechten zum Beispiel in die USA, wo es eine große chinesisch-amerikanische Zuschauerschaft gibt, hilft eine Altersfreigabe bei der Einschätzung der Zielgruppe. Selbiges trifft auf den heimischen Markt zu, wo die Einführung eines R-Rating-Äquivalents erwachsene Zuschauer direkter ansprechen könnte.

Gefahr und Begierde

In der GBTimes  wird derweil plädiert, dass Altersfreigaben zu einer größeren Vielfalt der Stoffe führen könnte, beginnend bei den importierten Filmen. Für chinesische Filmemacher würde eine Altersfreigabe mehr Sicherheit in den kreativen Entscheidungen bedeuten. Richtlinien, was ab einem bestimmten Alter gezeigt werden darf, wären eine transparente Alternative zur gegenwärtigen bürokratischen Glaskugel. So unterschiedliche Regisseure wie Feng Xiaogang (Assembly) und Jia Zhangke plädieren für ein solches System, gerade auch wegen negativen Erfahrungen. Jia hatte A Touch of Sin in Absprache mit der chinesischen Zensur gedreht, trotzdem wurde dem Film kurz vor dem Start die Kino-Veröffentlichung entzogen (New York Times ). Zu guter Letzt würde die Integrität der Filme gewahrt, die weniger massiven Schnitten ausgesetzt wären.

Warum gibt es noch immer kein FSK-Äquivalent in China?

Die jüngste Einführung von Warnhinweisen für Eltern bringt die chinesische Filmindustrie so nah an eine Altersfreigabe wie nie zuvor. Der Wunsch ist da. Die Gründe sind nachvollziehbar. Trotzdem lässt die Einführung auf sich warten. Zur Zeit befinden sich die regulierenden Organe des Staates, die sich mit Film befassen, im Umbruch. Beim Nationalen Volkskongress im März wurde eine Neuordnung angekündigt, wonach eine Behörde speziell für Filme und andere Medien geschaffen werden soll, die sich unter anderem mit Zensur befassen wird. Anders als Vorgängerinstitutionen soll sie direkt dem Propaganda-Ministerium unterstehen. Die Vorgänge deuten, wie Screen  berichtet, auf eine stärkere Kontrolle der Filmwirtschaft durch den Parteiapparat unter Präsident Xi Jinping hin.

Damit ist nicht ausgeschlossen, dass unter Xi noch ein System der Altersfreigabe eingeführt wird, wie es in Südkorea, Indien, Japan und auch der Sonderverwaltungszone Hongkong existiert. Ein Hauptargument gegen ein zumindest in seinem Ansatz transparentes System dieser Art ist aber ein entscheidendes: die Zensur. Altersfreigaben sind kein Allheilmittel gegen drastische Schnitte und anderweitige Verbote. Doch die Abwesenheit von Standards erleichtert ihre bedenkenlose Umsetzung. Die Angriffsfläche wird bei undurchschaubaren Zensurbehörden, wie sie in den vergangenen Jahren in China existierten, auf ein Minimum reduziert. Ganz zu schweigen von der allgemeinen Einschüchterung, die von ihren Entscheidungen ausgeht. Wer gibt diese Macht schon freiwillig ab?

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