Cannes 2017 stellt die Frage: Wie viel Kino braucht der Film?

17.05.2017 - 08:50 UhrVor 7 Jahren aktualisiert
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Die Elite will die Revolution im Keim ersticken. Das Festival Cannes wurde 2017 schon vor dem Start zum Schlachtfeld von Kinobetreibern und Netflix. Freuen wir uns auf ein Ausnahme-Festival!

Wenn Reed Hastings, der CEO von Netflix, über Kinobetreiber schreibt, wähnt man sich in einer muffigen Pariser Bücherei, so anno 1789. Sprachrohr dieses kapitalistischen Jakobinerklubs ist Facebook, "die da oben" sind die französischen Kinobetreiber. Die hatten gegen die Inklusion von zwei Netflix-Filmen in den Wettbewerb des Festivals in Cannes protestiert. Die Revolutionäre müssen draußen bleiben, "das Establishment schließt seine Reihen gegen uns", lautete die kampflustige Interpretation von Hastings. Einen Konzern mit 7 Milliarden Dollar Umsatz im Jahr muss man erstmal als Underdog hinstellen können, insofern ein "Chapeau!" von mir. Allerdings zeigt der Konflikt um The Meyerowitz Stories und Okja, dass ausgerechnet die 70. Ausgabe der Internationalen Filmfestspiele in Cannes hin und her gerissen wird zwischen Traditionspflege und zaghaften Schritten in die bereits existente Zukunft.

Heute Abend wird das Festival Cannes zum 70. Mal eröffnet. Die großen Hollywood-Blockbuster fanden ihren Weg diesmal nicht an die Croisette. Zur Erinnerung: Vor zwei Jahren lief hier immerhin Mad Max: Fury Road. Nicht dass der Film Cannes gebraucht hätte, aber die Akzeptanz von so großem "Kommerzkino" spiegelt das Festivaltreiben in seiner Gesamtheit wider, wird das kostbare kinematografische Gut der kommenden Jahre im Filmmarkt doch freudig an den Höchstbietenden verschachert. Festivalchef Thierry Frémaux jedenfalls wird es vielleicht nicht direkt zugeben, aber Cannes 2017 ruht sich nicht auf der Tradition als wichtigstes Filmfestival der Welt aus. Das Kino als Institution bestimmt nicht über die Inhalte des Programms, oder zumindest diesmal nicht. Mit Top Of The Lake Staffel 2 und dem Twin Peaks-Revival hat der Serienboom auch Cannes erreicht und Alejandro González Iñárritu stellt einen kurzen Virtual Reality-Film vor. Cannes huldigt zuallererst dem Autorenfilm und wenn die Autoren außerhalb des Kinos fruchtbaren Boden finden, dann will das Festival die Jane Campions und David Lynchs dieser Welt nicht aus den Augen verlieren.

The Meyerowitz Stories

Der Südkoreaner Bong Joon-ho (Snowpiercer) und sein amerikanischer Kollege Noah Baumbach (Mistress America) gehören zu diesem Spektrum von Filmemachern im Cannes-Fokus. Ihre neuen Filme Okja und The Meyerowitz Stories wurden für den Streaming-Anbieter Netflix produziert bzw. von diesem gekauft. Sie sind nicht die einzigen Streaming-Vertreter im Wettbewerb des Festivals. Wonderstruck von Todd Haynes und You Were Never Really Here von Lynne Ramsay entstanden mit Hilfe von Amazon Studios. Allerdings versucht sich Amazon als Verleiher in Zusammenarbeit mit den Kinobetreibern weltweit zu etablieren. Netflix hingegen propagiert die Unabhängigkeit von der Kino-Auswertung, wenn auch für den Monsterfilm und das Familiendrama Ausnahmen in Ländern wie den USA und Südkorea gemacht werden. Frankreich zählt nicht dazu.

Umso schärfer protestierten die französischen Kinobetreiber, als Okja und The Meyerowitz Stories im Wettbewerb von Cannes gelistet wurden. "Sie [die Netflix-Filme, Anm.d.Red.] sind die perfekte Repräsentation des amerikanischen kulturellen Imperialismus", zitiert die New York Times  Christophe Tardieu, den Direktor der französischen Filmförderungsinstitution CNC . Jean Labadie, Chef der französischen Firma Le Pacte, warf Netflix vor, die Kinos in den Ruin treiben zu wollen (THR ). Infolge der Kritik der Kinobetreiber, die auch in Gremien des Festivals Einfluss ausüben, wurde für Cannes 2018 eine Regeländerung eingeführt: Netflix-Filme ohne französischen Kinostart werden aus dem offiziellen Wettbewerb ausgeschlossen. Was Netflix prinzipiell aus dem Wettbewerb ausschließt, da eine entscheidende Regelung der französischen Filmwirtschaft Netflix aus den Kinos fernhält: Kinofilme landen in Frankreich erst nach 36 Monaten bei Streaming-Diensten. Was nützt ein Alibi-Start, wenn der Hype bis zur Streaming-Auswertung verpufft, lautet das Netflix-Argument.

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Vincent Maraval vom französischen Verleih Wild Bunch weist beim Hollywood Reporter  sogleich auf die Probleme hin, welche die Sonderregelung mit sich bringt:

Die Hälfte der Un Certain Regard-Auswahl wird nicht in Frankreich ins Kino gebracht. Was machen wir also? [...] Wenn ein Film während [des Festivals] an Netflix verkauft wird, nehmen wir ihn dann aus dem Wettbewerb? Wenn ein Film keinen französischen Verleih hat, kann er dann nicht Teil eines internationalen Filmfestivals sein?

Von außen wirkt die Regeländerung wie eine Kurzschlussreaktion auf die Kritik von Vorstandsmitgliedern. Anstatt den Druck des wichtigsten Filmfestivals der Welt zu instrumentalisieren, die Auswahlfreiheit der Programmplaner zu wahren und die 36-Monate-Regelung zu hinterfragen, gibt Cannes nach. Der Schritt beschwichtigt eher Kinobetreiber, denn Kino-Puristen. Am Trend wird er nichts ändern und eher der Konkurrenz in die Hände spielen. Venedig mit seiner zeitlichen Nähe zur Oscar-Saison könnte Netflix-Filme in den kommenden Jahren mit offenen Armen in den Wettbewerb empfangen.

Der Konflikt unter Palmen legt aber auch das fragile Selbstverständnis der Streaming-Revolutionäre bloß. Gegenüber Screen  betonte Netflix' Content-Chef Ted Sarandos das Prestige einer Premiere an der Croisette:

Ich bin extrem stolz auf unsere Verbindung von Okja und Cannes. Das Filmfestival in Cannes hat eine großartige Tradition, nur jene einzuladen, die sie für die besten Filme der Welt halten. [...] Ich glaube, in den kommenden Jahren wird Cannes weiter die besten Filme der Welt einladen. Das Verleihgeschäft ändert sich, deshalb werden sich Festivals auch ändern.

Doch was genau ist der Reiz einer Festivalpremiere, die Netflix so zu begehren scheint, jenseits der Pressemitteilung über den Wettbewerb? Der rote Teppich vor dem Palais, die Paparazzi, die Exklusivität des Events und tausende Zuschauer, die zeitnah denselben Film sehen, die jubeln oder buhen, und deren Echo aus dem Saal in die Welt hinaus getragen wird. Der Reiz einer Festivalpremiere bleibt das Kino, bleibt das "Establishment".

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