The Truth eröffnet Venedig: Fallen wir auf die Knie vor Deneuve und Binoche

29.08.2019 - 18:42 UhrVor 4 Jahren aktualisiert
Catherine Deneuve in The Truth
3B Productions
Catherine Deneuve in The Truth
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Catherine Deneuve und Juliette Binoche spielen Mutter und Tochter im Eröffnungsfilm des Festivals von Venedig, wo dieses Jahr wieder Netflix im Programm auftrumpft.

Überall starrt einen Brad Pitt an. Das ist keine Beschwerde. Das Festivalgelände auf dem Lido, einer schmalen Sandbank in der Lagune von Venedig, wurde mit Plakaten für Ad Astra - Zu den Sternen förmlich zugekleistert. Alles, was es zur Werbung für den Science-Fiction-Film braucht, ist das Gesicht des Stars aus Once Upon a Time ... in Hollywood, getaucht in ein fahles Türkis. Selbst der Astronautenanzug ist Nebensache.

Brad Pitt ist schließlich ein echter Star, der Finanzierung für einen aufwendigen Film wie Ad Astra aufsaugt, ganz ohne die heute unabdingbare Franchise-Anbindung. Das Universum müssen wir in Ad Astra erst ganz neu entdecken.

Im Eröffnungsfilm von Venedig, The Truth, spielt Catherine Deneuve auch so einen Filmstar, eine Art Zukunftsvision für Pitt. In einer Szene sitzt sie mit Filmtochter Juliette Binoche im Wohnzimmer und macht mit ihr den Stich-Geige-Stich-Geige-Terror aus Alfred Hitchcocks Psycho nach. The Truth ist vielleicht kein großer Film, aber immerhin ein großer Spaß für Liebhaber französischer Filmgöttinnen.

Drei Dinge, die ihr übers Festival in Venedig wissen müsst

  • Es gibt genauso viele (oder wenige) Netflix-Filme wie weibliche Regisseure im Wettbewerb: zwei.
  • Ethan Hawke macht im Eröffnungsfilm The Truth mehrere Tierlaute nach und mein professionelles Urteil lautet: Er sollte das öfter machen, egal ob es in den Film passt oder nicht.
  • Catherine Deneuve wirft in The Truth so viel Shade auf Brigitte Bardot wie eine Sonnenfinsternis.

Das erwartet euch in The Truth mit Catherine Deneuve und Juliette Binoche

Zu den Sternen wird es mit Brad Pitt erst am zweiten Tag des Festivals von Venedig gehen, thematisch dürften sich The Truth und Ad Astra allerdings gar nicht so fern liegen. In dem einen zieht es einen Sohn zu seinem Vater ins All, in dem anderen eine Tochter ans Filmset ihrer Mutter.

Catherine Deneuve und Juliette Binoche in The Truth

Catherine Deneuve spielt Fabienne, die gerade ihre Autobiografie veröffentlicht hat und es darin mit der Wahrheit nicht so genau nimmt. Stellt sie sich hier als liebende Mutter dar, erinnert sich Lumir (Juliette Binoche) nur daran, wie sie im Keller eingeschlossen und vergessen wurde, weil die Mutter noch einen trinken gegangen ist.

Es ist keine herzliche Beziehung zwischen den beiden, eher eine Art Waffenstillstand, der durch die Entfernung zwischen Europa und Amerika aufrecht erhalten wird. Lumir lebt in den Staaten mit einem Seriendarsteller (Ethan Hawke) - und diese Berufsbezeichnung wird hier mit dem abfälligen Unterton von vor 20 Jahren genutzt. Mit Kind und Kegel taucht sie im Garten ihrer Mutter in Paris auf, wo eine uralte Schildkröte herumkrabbelt und die Sträucher zu langen Spaziergängen durchs undurchdringliche Grün einladen.

An dem wundersamen Refugium erkennt man die Handschrift von Hirokazu Koreeda. Letztes Jahr gewann der Japaner für Shoplifters - Familienbande die Goldene Palme von Cannes, nun legt er seine erste fremdsprachige Produktion vor. In The Truth können wir uns von den Kindern in prekären Situationen ausruhen. Die Vernachlässigung liegt hier Jahrzehnte zurück, aber dicht in der Erinnerung der Tochter.

Fabienne dagegen, so schält es sich in dem liebevollen Porträt von Schauspielern heraus, kanalisiert ihr schlechtes Gewissen, die Schuldgefühle und Sehnsüchte in die berührenden Szenen am Set. Wurde der Rohstoff verbraucht, so der Umkehrschluss, ist daheim für die Tochter nichts mehr übrig.

The Truth: Fallen wir auf die Knie vor Deneuve und Binoche

The Truth (Original: La Verité) ist ein kleiner Film, selbst für einen Regisseur, der sich aufs Kleine, aufs Unscheinbare konzentriert hat. Vielleicht, weil es seine bisher größte Filmproduktion ist. Der Eröffnungsfilm von Venedig huldigt seinen beiden Diven Catherine Deneuve und Juliette Binoche, er labt sich an der Dauerverwirrung von Ethan Hawkes Hank, in dessen Figurennamen schon alles steckt, was ihn ausmacht und zusammenschrumpft neben der wandelnden französischen Filmgeschichte (im Film wie außerhalb).

Juliette Binoche, Catherine Deneuve und Ethan Hawke in The Truth

Hawke hat das seltene Talent, sich in die absurdesten Umgebungen einzufügen, als wäre er schon immer dagewesen. In The Truth spielt er einen menschlichen Wollpullover, der viel verbirgt, aber seinem innersten Wesen nach zum Wärmen da ist. Für die kleine Tochter, die Ehefrau und die abschätzige Schwiegermutter mit der Giftzunge.

Das Drehbuch segnet die Darsteller mit allerhand amüsanten Verweisen auf das Medium. Ein Film-im-Film, dessen Story dem letzten Drittel von Interstellar entnommen scheint, strahlt in die nicht sonderlich weitläufigen Konfliktsphären von Mutter und Tochter hinein, damit auch der letzte Zuschauer die dunklen Ecken erkennt.

Vor allem weckt The Truth Erinnerungen an Die Wolken von Sils Maria und Frankie. Ersterer erkundete das Spiel von Fiktion und Realität auf verästelteren Pfaden. Der andere, in dem Isabelle Huppert und Brendan Gleeson ein Familientreffen vorbereiten, begeisterte mit seiner Reduktion. Frankie ist ein kleiner Film, der eine leicht zu übersehende Größe verbirgt. Und das schreibe ich nicht nur als sklavische Verehrerin von La Huppert (aber auch).

Netflix gehört Venedig - oder andersherum?

Als Eröffnungsfilm stimmt The Truth trotzdem hervorragend auf das Festival ein, nicht zuletzt, weil Catherine Deneuves Fabienne an einer Stelle mit einem klar zu interpretierenden Unterton meint, sie habe Hanks Serie auf YouTube gesehen. Das sei ja nicht dasselbe wie richtige Schauspielerei, erklärt sie unbekümmert beim Abendessen. Was sie zu Netflix-Filmen sagen würde?

Von Netflix für Venedig: Marriage Story mit Scarlett Johansson und Adam Driver

Dieses Jahr ist der Streaming-Dienst, der 2018 mit Roma den Goldenen Löwen abstaubte, wieder präsent. Steven Soderberghs The Laundromat und Noah Baumbachs Marriage Story laufen im Wettbewerb und die europäische Kino-Vereinigung UNIC hat die Auswahl bereits kritisiert (Screen Daily ).

In Cannes darf Netflix nicht in den Wettbewerb, in der Lagunenstadt sind die Netflix-Filme dagegen ein essenzielles Mittel, um gegen die Festival-Konkurrenz aus Toronto und Telluride zu bestehen. Irgendwie müssen die internationalen Kritiker und Industrie-Vertreter auf die Sandbank gelockt werden wie Bienen zum Honig, bevor sie in der zweiten Festival-Woche nach Toronto abschwirren. Brad Pitt allein genügt nicht mehr.

Auf einer Skala von 10 bis 10: Wie toll findet ihr Catherine Deneuve und Juliette Binoche?

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