Apostle oder: Warum The Raid als Netflix Original untergegangen wäre

06.10.2018 - 09:00 UhrVor 5 Jahren aktualisiert
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Gareth Evans schuf mit The Raid einen der beliebtesten Actionfilme der letzten Jahre. Jetzt versucht er sich mit dem ultrabrutalen Thriller Apostle in einem neuen Genre - bei Netflix.

Stellt euch vor, The Raid wäre bei Netflix veröffentlicht worden. Nach der Premiere in Toronto im Herbst und den enthusiastischen Zuschauerreaktionen schnappt sich der Streaming-Dienst die Rechte. Ein paar Wochen später feiert The Raid seine Premiere bei Netflix. Weltweit haben 130 Millionen Abonnenten auf einmal die Gelegenheit, den Actionknaller zu entdecken. Bis ihn das nächste Netflix-Original von der Startseite verdrängt. Grund für dieses Gedankenspiel ist Apostle, der vierte Spielfilm des Walisers Gareth Evans, dessen indonesischer Actioner The Raid vor sieben Jahren in Toronto Premiere feierte. Evans erste englischsprachige Produktion lief Ende September beim Fantastic Fest in Austin und wird euch in ein paar Tagen bei Netflix zur Verfügung stehen. Zwischendurch ein Stop in Sitges. Es ist kein Martial Arts-Film, vielmehr ein Kult-Thriller irgendwo zwischen Wicker Man (Original) und Wicker Man (Remake), vermixt mit reichlich Blut, Gedärm und berstenden Knochen. Dan Stevens aus Legion spielt die Hauptrolle. Aber wird sich irgendwer ein, zwei Wochen nach dem Netflix-Start daran erinnern, dass dieser Film existiert?

Apostle wendet sich in allen Punkten von The Raid ab - und ähnelt ihm doch

Apostle ist eine dezidierte Abkehr von dem Genre, mit dem Gareth Evans berühmt wurde. Sein Martial Arts-Film schickte einen kampfbegabten Cop in ein indonesisches Hochhaus. Apostle dagegen ist ein Historienfilm, angesiedelt auf einer einsamen Insel Anfang des 20. Jahrhunderts. Die urbane Klaustrophobie wird durch weite Landschaftspanoramen ersetzt und statt des stoisch gutmütigen Rama haben wir den verdächtig grimmig dreinblickenden Dan Stevens vor uns. Stevens spielt Thomas Richardson, der von seinem verhassten Vater den Auftrag erhält, seine Schwester aus den Fängen eines Kults zu retten. Sie wurde zwecks Lösegeld entführt. Dem Kult geht verdirbt nämlich eine Ernte nach der anderen. Auf der abgelegenen Insel Erisden angekommen, die von drei Brüdern beherrscht wird (unter anderem Michael Sheen als heretischer Prediger), stellt Thomas schnell fest, das hier was Altes, Magisches, Dunkles im Busch ist. Die Bewohner stellen abends Einmachgläser ihres eigenen Blutes vor die Tür. Unliebsame Gäste verschwinden und bald droht auch Thomas einer davon zu werden.

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Die Zutaten mögen andere sein, Gareth Evans zieht es trotzdem zu seinen Instinkten. Statt der Männer, die sich in Hochhäusern die Knochen brechen, lädt Apostle zur durch Mark und Bein gehenden Vergnügungsfahrt durch ein Kabinett des Folterhorrors. The Raid war das vermutlich von Anfang an, nur haben es die tänzelnden Choreografien verborgen. Je länger die Laufzeit, desto unpraktischer, komplizierter und grausamer die Methoden des Insel-Kults in Apostle, dessen Glaubensgrundzüge nie so recht klar werden, wohl weil sich niemand Gedanken darüber gemacht hat (auf der Insel oder im Drehbuchstadium). Thomas' Tortur bleibt durchweg ungruselig. Wohl weil einem die Horror-Atmosphäre mit dem dissonant kreischenden Score förmlich über den Schädel gezogen wird, ohne dass sie durchs filmische Handwerk hinreichend aufgebaut wird. Ohne die fließende Wucht eines Kämpfers, der sich von Actionszene A nach Actionszene B bewegt, bleiben große Bild- und Schmerzideen ohne Antriebskraft.

Weder furchtbar noch überwältigend: Apostle ist ein Netflix-Film

"Männer, die sich Korkenzieher ins Hirn drehen" hätte der alternative Titel von Apostle lauten können. Darin sind die Herren, egal auf welcher Seite, krankhaft fixiert aufs Erreichen einer Reinheit, die sie leider nur in jungen Frauen wiederfinden. Die Flucht in körperliche Bestrafung ist damit vorprogrammiert, wofür Evans, der auch das Drehbuch geschrieben hat, so einige Ideen gesammelt hat. Dass das alles nur zu circa einem Viertel durchdacht wurde, zeigt sich spätestens, wenn eine vom Film durchweg ignorierte Figur anfängt Monologe zu halten, die vom Drehbuch regelrecht überrumpelnd als bedeutsam empfunden werden. Das Empfinden der eigenen Bedeutung hatte bereits The Raid 2 erlahmen lassen. In Apostle wird jeder Foltertermin herbeigesehnt, da er die Figuren zum Schweigen bringt. Man nimmt, was man kriegen kann.

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Weder furchtbar, noch überwältigend ist Apostle, also ein Netflix-Film. Netflix ist für von Hollywood im Stich gelassene Genrefilmer ein Segen, bietet es doch die allseitige Verfügbarkeit einer DTV-Premiere ohne den Ruf einer DTV-Premiere (was genau der Netflix-Ruf ist, befindet sich gerade im Frühstadium der Evolution). So gesellt sich Gareth Evans zu Jeremy Saulnier, dessen Mystery-Thriller Wolfsnächte vor ein paar Tagen bei Netflix Premiere feierte. Saulnier feierte mit Blue Ruin seinen Durchbruch. Per Crowdfunding kofinanziert, landete der Film in einer Nebenreihe beim Filmfestival in Cannes und per Mundpropaganda und Kritiker-Liebe irgendwann in den DVD-Regalen daheim. Saulniers Punk-Klopper Green Room brauchte zwischen Weltpremiere und hiesiger Auswertung über ein Jahr.

Das ist eine Quälerei für Filmfans, die Monate für die Sichtung eines heiß erwarteten Geheimtipps überbrücken müssen. Die Wartezeit kreiert aber auch einen Resonanzraum, der kleinen, aber nicht "preisverdächtigen" Filmen wie diesen zugute kommt. Einen Goldenen Löwen gewinnen sie vielleicht nicht, dafür kontinuierliche Präsenz auf Festivals auf der ganzen Welt und in sozialen Medien über einen langen Zeitraum hinweg. Das heißt nicht, dass sie beim Start den großen Reibach machen, aber sie hinterlassen einen sichtbaren Fußabdruck in der popkulturellen Verwertungskette, der von Interessenten wahrgenommen werden kann. Bei Blockbustern gehört das Prinzip der Vorfreude dank des langen Nachrichtenzyklus' zwischen Ankündigung und Start mittlerweile zum Unterhaltungsfaktor des Films. Bei kleineren Genrefilmen darf diese Hinauszögerung der Lust (am Film) nicht unterschätzt werden.

Bei Netflix wäre The Raid vermutlich untergegangen

Als The Raid 2011 in Toronto Premiere feierte, kannten ein paar eingefleischte Martial Arts-Fans die Namen Gareth Evans und Iko Uwais. Sie hatten ihren vielversprechenden Erstling Merantau gesehen. Toronto bildete den fruchtbaren Boden für den The Raid-Hype, doch bevor der Film in den USA Premiere feierte, vergingen Monate des Festival-Tingelns, von Deutschland ganz zu schweigen. Bis dahin hatte sich The Raid auf den flüchtigen Hype aufbauend einen Ruf erarbeitet. Handgedrehte Videos zeigten Iko Uwais, wie er vor jubelnden Zuschauern einer Kinovorführung seine Silat-Künste präsentierte. Mundpropaganda und Kritiken taten ihr Werk, der Weg dafür musste jedoch durch konkrete (Festival-)Termine über Monate hinweg gepflastert werden.

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Diese Art Werbung bleibt einem Film beim teils extrem kleinen Fenster zwischen Premiere und Filmstart bei Netflix verwehrt - und nein das hier ist kein Plädoyer für einjährige Wartezeiten auf Festivalfilme, wie wir es in Deutschland gewohnt sind. Aber auch für die Fans von Jeremy Saulnier und Gareth Evans mussten Blue Ruin, Merantau, The Raid oder Green Room erst einmal in den Radius der Aufmerksamkeit geschoben werden. Das alles ist kaum messbar, eher eine Gefühlslage meinerseits und sowieso: Genügt es nicht, dass ein Film überhaupt finanziert, gedreht, veröffentlicht wird? Sicher. Die Frage sollte also wohl eher lauten, wie wir den nächsten Gareth Evans und den nächsten Jeremy Saulnier entdecken, wurden ihre Filme nach einem Wochenende im Gespräch von Netflix' Content-Flut verschluckt. So wie es wohl auch bei Apostle der Fall sein wird.

Was sagt ihr zu den Filmen von Gareth Evans?

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