100 Jahre Caligari: Vom Mindfuck zu Martin Scorsese & Christopher Nolan

26.02.2020 - 08:00 UhrVor 4 Jahren aktualisiert
Caligari-Erbe: Inception
Warner Bros. Pictures / Murnau Stiftung
Caligari-Erbe: Inception
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Kaum ein deutscher Film war prägender als Das Cabinet des Dr. Caligari. Zum 100. Geburtstag blicken wir auf die weitreichenden Einflüsse des Horror-Klassikers.

Im Expressionismus, schrieb Filmhistorikerin Lotte Eisner, habe das deutsche Kino zu sich gefunden. Die Richtung wies 1920 ein Bewegtbild gewordener, schleierhafter Albtraum. Kinopionier Abel Gance nannte ihn "eine Lektion für alle Regisseure", Kritikerlegende Roger Ebert den "ersten wahren Horrorfilm". Das Cabinet des Dr. Caligari hat viele Zugänge und sich doch immer seine Rätsel bewahrt.

Was zunächst am Unbehagen liegt. Ein Unbehagen der Form, die krumm ist und verstörend, aus den Fugen geraten und widersinnig. Ein Unbehagen der darin gezeigten Lebenswirklichkeit, für die absonderlich Anmutendes nur allzu angemessen scheint. Das Unbehagen einer möglichen Wahrheit nicht zuletzt, die ausgerechnet in der als unwahr sich entpuppenden Geschichte zu schlummern droht.

Caligari als Vorbote des deutschen Faschismus

Von Caligari zu Hitler heißt ein Hauptwerk des Soziologen und Filmtheoretikers Siegfried Kracauer, welches dieses Unbehagen in düstere Ahnung kleidete. Das Weimarer Kino, besonders aber der Caligari-Film von Robert Wiene, sei ihm zufolge geeignet, "tiefenpsychologische Dispositionen" aufzudecken, die "Hitlers Aufstieg und Machtergreifung" würden verstehen helfen.

Besessene Tyrannenfigur: Du musst Caligari werden!

In seiner Betrachtung des (von den Nazis als "entartete Kunst" verbotenen) Films ging Kracauer vom Kino als Mentalitätsvermittlung aus. Die Geschichte des attraktiven und tyrannischen Hypnotiseurs, der einen Somnambulen für sich morden lässt ("Du musst Caligari werden!"), habe bereits das autoritäre Gelüst der deutschen Gesellschaft erkennen lassen – seine Vorliebe für Manipulatoren, wie sie von Dr. Mabuse bis Nosferatu im Mittelpunkt zahlreicher Publikumserfolge jener Zeit standen.

Daher verurteilte Kracauer auch die Rahmenhandlung des Films. Sie enttarnt den Erzähler und Helden Franzis als Insassen einer Nervenklinik unter Führung von Caligari, wonach nicht der gefährliche Puppenspieler, sondern dessen rebellischer Widersacher dem Wahnsinn verfallen ist. Am Schluss werde Obrigkeitsskepsis durch Affirmation ersetzt, so das ideologiekritische Urteil.

Kracauers These schien gleichermaßen erhellend wie beunruhigend. "Was weiß das Kino, was wir nicht wissen?", fragt Filmkritiker Rüdiger Suchsland in Von Caligari zu Hitler, seiner essayistischen Annäherung ans Unbehagen. Könnte ein Teil der Ablehnung, die Wienes Film neben zahlreichem Lob nicht unbeträchtlich erfuhr, auch als undefiniertes Befremden über dessen seismographische Eigenschaften verstanden werden?

Das Cabinet des Dr. Caligari, ein revolutionärer Film

Zumindest ästhetisch wurde Das Cabinet des Dr. Caligari nach der Uraufführung teils heftig kritisiert. Der polnisch-französische Filmtheoretiker Jean Epstein bezeichnete den Hang zum Kulissenhaften als "ernsthafte Krankheit des Kinos", der sowjetische Regisseur Sergei Eisenstein meinte sogar eine "barbarische Orgie der Selbstvernichtung gesunden Menschentums in der Kunst" und ein "Massengrab aller gesunden Prinzipien des Films" erkannt zu haben.

Marionette des Bösen: Der Somnambule Cesare

Vielleicht war es gerade die Kombination aus (pathologisierten) Regelverstößen und jener unheilvollen, in den Bildern rumorenden Abgründigkeit, die Caligari zur durchschlagenden Kraft seiner Filmsprache verhalf. Einer Sprache, die auf den Kopf stellte, was als unverrückbar galt – und dabei so kräftig im Verborgenen grub, dass kaum ein Filmemacher nicht an der ein oder anderen Stelle auf sie zurückgreifen musste.

Vom Caligarismus, dem prägenden Stil des Films, zeigten sich bereits zeitgenössische Regisseure wie Fritz Lang oder Friedrich Wilhelm Murnau beeindruckt. Seinen tatsächlichen Einfluss offenbarte jedoch erst Hollywood: Das von Auswanderern geformte Horrorkino der Universal-Studios variierte die Figur des Somnambulen zum Vorbild zahlloser Monstren, während in den Film noir – Hollywoods "schwarze Serie" – die Ästhetik des Expressionismus und dessen fatalistische Erzählstandpunkte einzogen.

Noch Jahrzehnte später übt Das Cabinet des Dr. Caligari eine besondere Faszination auf zahlreiche Größen des amerikanischen Kinos aus. David Lynch, Tim Burton und Terry Gilliam haben den Bilderwelten des Films mehrfach Reverenz erwiesen. Christopher Nolan, David Fincher und M. Night Shyamalan wiederum machten die unzuverlässige Heldenfigur zur Konstante ihrer verwobenen Identitätsthriller.

Caligari-Erbe: Vom Mindfuck zu Christopher Nolan

Insbesondere Christopher Nolan zog Ende der 1990er Jahre zwei wesentliche Caligari-Traditionslinien nach. Die asymmetrischen Erzählungen von Following und Memento haben das Kausalitäts- und Zeitspiel des (gewissermaßen nochmals neuen) Neo-Noir auf die Spitze getrieben. Ihre getäuschten bzw. unter Amnesie leidenden Protagonisten stolpern durch Handlungskonstruktionen, die das Irritationsmoment zum Grundprinzip machen.

Falsche Fährten: Memento von Christopher Nolan

An Strippenziehern wie Dr. Caligari, falschen Helden wie Franzis und ahnungslosen Gestalten wie dem Somnambulen Cesare mangelt es dem Kino eines Christopher Nolan folglich nicht. Die in Wahn und Wirklichkeit, Traum und Erwachen, Magie und Entzauberung unterteilten Erzähllabyrinthe von Memento, Prestige oder Inception können ohne Umwege als Caligari-Erbe identifiziert werden.

Für den Mindfuck- oder Mindgame-Film ist der in alle Richtungen offene Schluss von Das Cabinet des Dr. Caligari womöglich die Blaupause schlechthin. Er überführt die vermeintliche Rückblende der Binnenhandlung als Hirngespinst und den edlen Helden als manischen Geschichtenerzähler. Am Ende bleibt eine Sinnestäuschung, vermittelt als Produkt gespaltener Persönlichkeit.

Daraus haben vor allem postmoderne Vexierbilder wie Fight Club, Matrix oder The Sixth Sense einen ständigen Bezugspunkt gewonnen, indem sie die Caligari-Wendung zunächst als dramaturgisches Werkzeug und zunehmend auch narrativen Taschenspielertrick nutzten. Wo Dualität und Wahrheitsbegriff bei Caligari auch Hinweise auf die mentale Beschaffenheit einer Welt oder (nach Kracauer) eines nationalen Kinos waren, stehen hier um Originalität bemühte Drehbucheinfälle im Mittelpunkt.

Caligari-Horror: Am Ende bleibt die Ungewissheit

Spannender, nämlich in der Absicht eines innerfilmischen Dialogs, strickte Martin Scorsese seine Caligari-Hommage Shutter Island. Nur oberflächlich ist sie an falschen Handlungsfährten interessiert (einem geschulten Publikum offenbart Scorsese den finalen Twist schon zu Beginn), um stattdessen mit Nazischergen und Weltkriegsveteranen einen historischen Zusammenhang aufzumachen, welcher "die Dämonen der Filmgeschichte ein Doppelleben als Dämonen der historischen Wirklichkeit" (Martin Thomson ) führen lässt.

Wahnhaftigkeit: Shutter Island von Martin Scorsese

Zugleich verweist Scorseses vor absichtlichen Ungereimtheiten strotzende Inszenierung auf jene von Entstehungsmythen umrankte Wendung des Klassikers, die in der subjektiven Haltung ihrer Erzählung die Subjektivität seiner Form bestätigt. Der Expressionismus von Caligari bildet konsequent innere Zustände ab. Aufbegehrende Gefühle, sichtbar gemacht als windschiefer Bilderreigen.

Und möglicherweise ist das der wahre Mindfuck des Kinos: Ein Fiebertraum, der jedes gestalterische Detail infiziert, und von einer scheinbar objektiven Auflösung umrahmt wird, die genauso wenig zuverlässig ist. Der Held, die Liebe, das Schreckgespenst: Im Cabinet des Dr. Caligari bleibt letztlich alles ungewiss, schreitet der Twist gerade nicht als rettender Einfall zur Hilfe.

Denn Robert Wienes Film "handelt nicht nur von Verrücktheit, er wird selber verrückt" (Georg Seeßlen ). Er kreiert eine "psychologische Fantasie" (Roger Ebert ), in der "eine ganze Welt außer Balance gerät" (Stephen Brockmann ). Bis heute gelingt es Caligari, diese Schräglage aufrecht zu erhalten. In und mit ihr schlafwandelt er seit einem Jahrhundert durch unser Kinobewusstsein.

Heute vor 100 Jahren, am 26.02.1920, feierte der Film seine Uraufführung im Berliner Marmorhaus. Zum Caligari-Geburtstag hat Arte den Klassiker in seine Mediathek  gestellt. Die von der Murnau-Stiftung in Zusammenarbeit mit ZDF und Arte restaurierte Fassung ist auf DVD und Blu-ray  erhältlich.

Kennt ihr Das Cabinet des Dr. Caligari?

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