Wie Hollywood neue Filme ins Wohnzimmer bringen will

07.12.2016 - 10:05 UhrVor 6 Jahren aktualisiert
Im Augenblick der Angst
Sunfilm
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Einen Blockbuster zwei Wochen nach Kinostart zuhause schauen? Hollywood-Studios meinen: ja. Sie wollen das bisherige Verwertungsfenster reduzieren und eine Art Premium-Streaming etablieren. Es geht dabei wieder einmal um die Zukunft des Kinos.

Die Idee des Filmverwertungsfensters ist simpel. Ein Kinofilm soll zunächst auf der großen Leinwand, später über das Heimkino und dann im Pay- und Free-TV zu sehen sein, akribisch festgelegte Zeiträume der Veröffentlichung stellen sicher, dass sich einzelne Auswertungsmedien dabei nicht kannibalisieren. In den 1970er-Jahren lagen zwischen Kinostart und Fernsehausstrahlung eines Films noch sieben Jahre, für den aufkeimenden Videomarkt war eine Verzögerung von neun bis zwölf Monaten vorgesehen. Als die DVD zu Beginn des neuen Jahrtausends ihren Siegeszug antrat, hatten sich diese Spannen bereits deutlich reduziert. Filme erschienen damals sechs Monate nach Kinostart auf VHS und waren zum Teil zwei Jahre später im frei verfügbaren Fernsehen zu sehen, mittlerweile vergehen nur noch drei bis vier Monate, ehe sie als Leih- und Kaufmedien veröffentlicht werden. In ihrer jetzigen unflexiblen Form sind solche Verwertungsfenster, obgleich kürzer denn je, ein Zugeständnis an Kinobetreiber – ginge es nach dem Willen der großen US-Filmstudios, würden sie längst der Vergangenheit angehören. Ihr Ziel ist eine annähernd simultane Veröffentlichung von Filmen, vergleichbar mit der bei unabhängigen Produktionen gängigen Praxis des sogenannten Day-and-Date-Release.

Darüber verhandeln Hollywood-Studios und US-Kinoketten nun so konkret wie nie zuvor. Warner Bros. und Universal fordern Bloomberg  (sowie Berichten einschlägiger Branchenmagazine) zufolge ein Kinoverwertungsfenster von zwei bis maximal vier Wochen, im Anschluss könnten neue Filme für einen Preis zwischen 25 und 50 US-Dollar daheim abrufbar sein. Sollten die Kinobetreiber nicht mitziehen, zitiert Deadline  den Warner-CEO Kevin Tsujihara, werde der Plan dennoch durchgesetzt ("We're going to do it, and we're very focused on it."). Erklären lässt sich diese Aggressivität möglicherweise durch frühere vergebliche Bemühungen der Studios, gängige Veröffentlichungszeiträume zu verkürzen. Eine Zusammenarbeit  mit dem Programmanbieter DirecTV, der aktuelle Filme wenige Wochen nach Kinostart verfügbar machen sollte, scheiterte vor fünf Jahren an Boykottdrohungen der Kinobetreiber. Ein 2013 in Südkorea getestetes Premium-Modell  für Video-on-Demand verblieb als zaghafter Versuch, den sich Disney und Sony in den USA gar nicht erst getraut hätten. Im Herbst 2015 waren zwei Paramount-Produktionen  auf lediglich 1500 statt üblicherweise 3000 und mehr US-Leinwänden zu sehen, nachdem der Hollywood-Major das Kinoverwertungsfenster auf drei Wochen herunterschraubte.

Zuletzt sorgte das Konzept des Start-up-Unternehmen The Screening Room für Aufsehen, bei dem es tatsächlich um ein Day-and-Date-Release geht, die zeitgleiche Veröffentlichung im Kino und Heimkino. Zum Preis von 50 Dollar je Titel plus 150 Dollar für die Anschaffung einer pirateriegeschützten Set-Top-Box sollen Kunden neue Filme bequem zuhause schauen können, zwei Tage stünden diese zur Verfügung. Prominente Verteidiger  der Idee sind Filmemacher wie Steven Spielberg, Peter Jackson und J.J. Abrams, zu den erklärten Gegnern  gehören James Cameron, Christopher Nolan und Roland Emmerich (nicht ganz unwichtig: die Fürsprecher sind als Aktionäre am Unternehmen beteiligt). Hollywood-Studios scheinen auf The Screening Room allerdings nicht angewiesen zu sein. Vertriebskanäle haben sie als Teil großer Konzerne einerseits selbst (die Abhängigkeit zu einem exklusiven Anbieter wäre also kaum lukrativ), andererseits versprechen sie sich durch reduzierte Verwertungsfenster hohe Einnahmen von Anbietern wie I-Tunes. Überhaupt geht es ihnen darum, den steigenden Verlusten des Heimkinomarktes entgegenzuwirken. Seit 2004 seien die Einnahmen aus Datenträgerverkäufen und Lizenzierungen um 24 Prozent  gesunken, acht Milliarden Dollar hätten die Studios dadurch insgesamt verloren.

Aus den Plänen ergeben sich natürlich Fragen, einige neue und viele alte. Die offensichtlichste wäre, ob ein duales Verwertungssystem aus Premium-Streaming und Kinoaufführung nicht jenen kannibalisierenden Effekt nach sich zöge, der mit dem Zeitfenster eigentlich verhindert werden soll. Ticketverkäufe jedenfalls dürften zurückgehen und kleinere Filmtheater noch stärker um ihre Existenz kämpfen, ein weiterer (und diesmal vielleicht der ultimative) Bedeutungsverlust des Kinos wäre die logische Folge. Vor allem aber geht es einmal mehr um die Frage, ob Filme und somit ihre Zuchauer ins Kino gehören. Seit zehn Jahren geistert durch deutsche Lichtspielhäuser der ziemlich unangenehm nach Werbeagentur klingende Slogan Kino – dafür werden Filme gemacht , an dem eigentlich nichts wahr ist. Filme werden für alles Mögliche gemacht, aber ganz sicher nicht für die vergleichsweise kurze Zeit ihrer Kinoauswertung. Wo es kein Kino gibt, kann es trotzdem Film geben – eine Produktion fürs Fernsehen oder den Videomarkt hat nicht weniger Wert, weil sie es nie auf die große Leinwand schaffte. Das nämlich ist keine Selbstverständlichkeit, es ist besonders und nicht ausschließlich. Kino als primäre Filmbegegnungsstätte war einmal, heute kann das nur noch Utopie sein.

Es ist wichtig und ehrenwert, das Kino zu verteidigen. Filme lassen sich dort anders sehen, erleben und erschließen, das Teilen dieser Erfahrung mit wildfremden Menschen hat eine große und daheim nicht reproduzierbare Wirkung. Aber Kino steht nicht nur für ein soziales Ereignis, es steht immer auch für ein soziales Privileg. Wer es sich nicht leisten kann, wer keines in erreichbarer Nähe hat oder aus gesundheitlichen Gründen von seinen Verheißungen ausgeschlossen ist, dem helfen bestenfalls romantische, schlimmstenfalls elitäre Phrasen wenig. Für manche Filmfreunde könnte das von den Hollywood-Studios geforderte Modell nicht nur eine bequeme Alternative sein, sondern die einzige Möglichkeit, aktuelle Filme zu sehen. Das sollte man bei der Beurteilung der Pläne genauso berücksichtigen wie die Bemühungen der Kinos selbst, sich als filmisches Leitmedium zu diskreditieren (durch Live-Übertragungen von Fußballspielen oder Konzerten; durch kostenlose Sondervorführungen, die sich über den Verkauf von Nachos rentieren sollen; oder durch Programmreihen wie das von der UCI Kinowelt veranstaltete Event "Midnight Movie", bei dem wöchentlich Blu-rays verstümmelter Filme auf die Leinwand geworfen werden). Und manchmal sprechen schlicht auch ein paar gute Gründe gegen den Besuch im Filmtheater.

Jenseits cinephiler Reflexe ist das Konzept gleichwohl von Widersprüchen durchsetzt. Der Preis, so er sich denn in Richtung 50 Dollar bewegt, dürfte allenfalls für Gruppen, Familien und Gutverdiener akzeptabel sein. Er müsste eigentlich deutlich unterhalb eines durchschnittlichen Kinotickets liegen, schon des technischen Mehrwerts wegen, den Kinos bieten. Preise für Heimkinolizenzen orientieren sich am Kinoeinspiel, paradoxerweise also könnten die Studios zugleich einen Absatzmarkt schwächen, den sie eigentlich stärken wollen. Warner-CEO Kevin Tsujihara scheint außerdem überzeugt , mit der Idee lasse sich die Filmpiraterie aktueller Kinofilme bekämpfen. Piraterie aber existiert nicht, weil sich Menschen luxuriöses Premium-Streaming wünschen, sondern Kino ein mittlerweile sehr kostspieliges Vergnügen ist – und viele offenbar glauben, es lohne sich nicht mehr, für Filme zu bezahlen. Die Arbeit an neuen Verwertungsmöglichkeiten wirkt deshalb wie eine Behandlung der Symptome, nicht der Ursachen. Den Studios sollte es darum gehen, Kino wieder attraktiver und Filme besser zu machen: Keine Verengung des Marktes auf ungefragte Sequels und überveranschlagte Spektakel, keine Auslagerung komplexer Erzählungen ins Fernsehen und damit auf die heimische Couch.

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