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Wenn Spiele die besseren Filme sind

30.10.2018 - 16:00 UhrVor 6 Jahren aktualisiert
Deus Ex: Mankind Divided
Square Enix
Deus Ex: Mankind Divided
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Wer denkt, Spiele seien Filmen inhaltlich und inszenatorisch unterlegen und auf einer viel einfacheren, stets der interaktiven Unterhaltung dienenden Ebene konzipiert, der lebt im falschen Jahrhundert. Sie als verzichtbar abzutun, ist ein Fehler.

Ja, es stimmt – die einstmalige Funktion der Spiele war der Spaß und die Herausforderung, nur durch eigene Initiative und gern auch im Gemeinsam zu lösen. Eine großartige Handlung gab erst einmal so gar nicht zu bestaunen.

Die Historie der Videospiele beginnt ungefähr in den 1950ern. Die heimische und klassische Heimkonsole fand nach einer halben Dekade der Prototypen 1972 mit der Magnavox Odyssey ihren Ursprung, die Konsole, die letztlich auch das junge Atari dazu verleitete, Pong zu entwickeln. Jawohl, die großen 1970er und freilich auch 1980er sind das Fundament eines aus wirtschaftlicher Sicht gewaltigen Marktes, aus künstlerischer Sicht einer neuen Ausdrucksform.

Ist das Kunst oder kann das weg?

Nun lässt sich vielleicht darüber streiten, inwiefern Pong ein Kunstwerk sein soll, etwa beim das große Jahrzehnt der 80er einläutende Pac-Man beginnt die Sache jedoch, zunehmend kreative Züge anzunehmen und neben der im weiteren Sinne durchaus auch als Kunst auszulegenden Kodierung finden sich schließlich gestalterische Freiheiten. Einfache zwar, aber waren George Méliès' frühen Filme allzu komplex und bombastisch? Würdet ihr euch heute Edisons Produktionen ansehen, wenn ihr eine vor Immersion pulsierenden Geschichte erfahren möchtet? Ein vager Vergleich, letztlich bleiben aber sowohl Film als auch Spiel künstlerische Werke, die zielgerichtet von der nicht allzu fernen Inexistenz zur Omnipräsenz schreiteten. Nur sind Spiele noch am Anfang.

Dialoge und wenn auch sehr minimalistische Animationen fanden sich bereits damals, die Metamorphose in ein tatsächliches, ein die Geschichte nicht als Beiwerk betrachtendes Werk geschah in den 1990ern, von denen an man vielleicht auch vom modernen Videospiel sprechen könnte. Solchen Spielen nämlich, deren Wesen sich bisweilen als Cousin des Films beschreiben lässt. Das Spiel zum Film wie der Film zum Theaterstück et cetera, denn mag es sich durchaus davon herleiten und bisweilen weiter gehen, so ist es kein Ersatz für das vorangegangene, das zwar älter ist, aber nicht alt geworden. Und deshalb gibt es auch keinen Grund, sich bedroht zu fühlen.

Komplexität, Tiefe und zunehmend häufigere Kompositionen, die Anzahl all dieser und mehr Ingredienzen stieg merklich an und bescherte uns spielerische, aber auch erzählerische Meisterwerke wie 1998 Half-Life und The Legend of Zelda: Ocarina of Time, zwei Spiele, die heute nicht zu Unrecht auf dem Olymp der Videospiele sitzen und von alten wie neuen Generationen geliebt werden. Ocarina of Time (oder Nintendo) mutet ein wenig wie das spielerische Ghibli an oder vice versa – ein bis zum Rande vollgepacktes, dabei jedoch doch dem Minimalismus irgendwo treu bleibendes Meisterwerk voller herzerwärmender Kreativität und Liebe, die sich vom Anfang bis hin zum Ende erstreckt und die mit der Zeit nicht etwa uninteressanter wird. Allein die großartige Musik  bleibt unvergessen. Letztlich ist es doch das, was Kunst ausmacht: die Liebe, der Hass, das, was fernab völliger Zweckorientierung liegt.

Potenzial zur erzählerischen Großartigkeit

Sehr nahe unserer Zeit finden sich in den 2000ern nun die schon im vorherigen Jahrzehnt wachsenden 3D-Spiele, deren Charaktere und Kompositionen solchen von Filmen in nichts nachstehen. Vielleicht lässt sich hier eher ein Vergleich zu Serien ziehen, denn ein Spiel dauert weitaus mehr Stunden, und damit möchte ich die Chronologie brechen. Letztendlich bleibt das Kurzfazit dasselbe; Spiele sind transzendiert. Deus Ex , Halo  oder Assassin's Creed  – Spannung und emotionale Intensität stehen an der Tagesordnung, ein Meer der neuen Möglichkeiten sorgt für ungemein frische, bahnbrechende Ideen wie in BioShock das Metaspielen mit den Grenzen oder in The Elder Scrolls das passive Geschichtenerzählen durch aktives Dabeisein. Geschichten werden schon so erzählt, dass man einfach durch die Welt wandert und Eindrücke sammelt, Gespräche führt, vielleicht mal Nachrichten schaut.

Es gibt einen klaren Bruch zwischen Film und Spiel und das lässt sich nicht abstreiten. Die Unterscheidung fällt einfach aus; ein Film ist wie auch ein Buch eine passive Erfahrung. Sind Bücher der Art Die Insel der 1000 Gefahren dann aber Videospiele, wenn man das eBook besitzt? Es mag eine rhetorische Frage sein, Spiele haben aber keine Grenzen, und es gibt solche, die wie man sie sich vielleicht vorstellt linear ihre vielleicht sogar wahnsinnig komplexe Geschichte zu einem Ende bringen, und auch solche, die sich herkömmlichen an die "Realität" angelehnten Geschichten vollends entziehen und den Spieler selbst ein Spiel entwickeln lassen.

Ich möchte mich aber auf Spiele konzentrieren, denen es primär darum geht, eine Geschichte zu erzählen oder, abstrakter, einen Eindruck zu vermitteln. Nicht also solche, in denen Gameplay das Fundament ist. Allerdings ist das vielleicht falsch ausgedrückt, denn letzten Endes ist es immer ein wenig das Fundament. Deshalb fällt es auch schwer, sich einen völligen Eindruck zu machen und sich demzufolge eine klare Meinung zu bilden, ehe man tatsächlich ein, vielleicht eher zwei Spiele selbst oder mit einem Freund gespielt hat.

Eine Freundin meinte neulich, dass sie Spiele als weniger immersiv und emotional nicht dermaßen fordernd betrachtete. Das hat mich anfangs schon überrascht. Sie hat allerdings nicht viel gespielt und ist auch noch nicht besonders gut, kann oder will sich daher kaum auf Handlung und Welt konzentrieren. Damit lässt sich das letztlich schon erklären. Deshalb gibt es ja auch Schwierigkeitsstufen wie Leicht/Story oder Schwer. Jeder sucht Anderes aus Spielen, oder vielleicht auch beides. Beim ersten Mal spiele ich nie auf der höchsten Stufe, damit ich nicht ständig sterbe oder irgendwo hängenbleibe, das schadet der Immersion und macht es für mich weniger spannend. Beim zweiten oder dritten Mal hingegen gehe ich gern aufs Ganze und erlebe das Spiel dabei von einer völlig anderen Perspektive.

Ironischerweise scheinen gerade heute die populären Spiele Filmen näher als je zuvor zu sein, und so gelten Titel wie Life is Strange  oder The Wolf Among Us  häufig eher als interaktive Filme als Spielfilme ... äh .. filmische Spiele. Gerade letztgenanntes lässt den Spieler vielmehr einen Film sehen, dessen Handlung man aus eigenem Antrieb heraus weiterbringt, vermehrt spielen eigene Entscheidungen eine Rolle und können den Handlungsverlauf enorm beeinflussen.

Wie auch im Film gibt es sowohl gute als auch schlechte Titel. Nur ist der Film wie auch der Roman verhältnismäßig mehr am Erzählen einer Geschichte interessiert als ein Videospiel, je nach Argumentation auch weniger. War früher die meist einfach gestrickte Handlung das Beiwerk, um Grund für Action zu liefern, so ist heute freilich ein gewaltiges, kaum mehr zu definierendes Meer an Kompromissen aus Inhalt und Gameplay vorzufinden, häufig aber auch ein kompromissloses Beides. Eine Unterscheidung ist relativ. Wir befinden uns in einer Zeit, in der sich Namen wie Clint Mansell oder Martin Sheen Spielen widmen wie Filmen.

Und deshalb ist es falsch, Spiele zu ignorieren

Ein Spiel kann man des Spielens wegen spielen, einen Film des Sehens wegen sehen. Das erscheint mir allerdings ein wenig abstrakt. Ich sehe einen Film, um eine Geschichte zu erfahren. Ein Spiel spiele ich aus ganz ähnlichen Gründen. Mal will ich das eine mehr, mal das andere. Die Motivation spielt selbstverständlich eine Rolle, letztendlich finden sich aber derart vielseitige Werke in beiden Richtungen, dass es falsch ist, eine von beiden Seiten der Medaille gänzlich zu ignorieren, egal ob man nun intellektuell gefordert werden möchte oder einem wortkargen Actionhelden dabei zusehen, wie er den Tag rettet. Es ist nämlich öfter als nicht eine verschwommene Welt und nicht so leicht zu unterscheiden wie Romane und Spielfilme.

Leidenschaft ist alles. Verzichtet man auf Spiele, weil Filme schon zu viel Zeit einfordern, ist das der falsche Weg. Stellt euch vor, ihr hättet euren Lieblingsfilm nie gefunden, weil ihr lieber solche von vertrauten Regisseuren seht. Nicht nur sind das generalisierende und damit schlichtweg fehlerhafte Aussagen, es stellt sich die Frage, warum man etwas tut. Viele schlechte Filme zu kennen oder eine die eigene Persönlichkeit immens verändernde, ewig geliebte Serie zu sehen, ist nicht grundlos ein einfaches Ultimatum, Zeit dahingehend relativ. Ich appelliere an jene, die die Geschichte lieben, und ich appelliere an Momos Zeitempfindung.

Inszenatorische Meisterwerke

https://www.youtube.com/watch?v=eaW0tYpxyp0

Die schiere Anzahl an verpasstem Potenzial, nur weil man sich der Welt der Spiele entzieht, ist immens. Man sieht nicht zu, man ist dabei. Horrorspiele setzten mir bislang mehr zu als Horrorfilme, weil ich es bin, der vor dem schlurfenden Etwas davonschleicht. Ein großartiger Film macht mir das auch Glauben, kein Zweifel. Einem Spiel fällt das aber vielleicht leichter. Spiele als überlegen zu bezeichnen wäre anmaßend, unterlegen hingegen sind sie nicht mal im Traum.

Ich möchte final ein Beispiel von so vielen großartigen Titeln nennen. Es ist die in meinen Augen beste Trilogie aller Zeiten und zweifelsohne eine der in diverser Hinsicht emotionalsten Kunsterfahrungen meines Lebens. Die Rede ist von Mass Effect .

Mass Effect geht einen Schritt weiter. Die Trilogie baut auf den Entscheidungen des Spielers auf. Der finale Teil führt die kausalen Ketten zu einer gewaltigen Explosion zusammen. Gefährten, deren Überleben man buchstäblich selbst in der Hand hat, aber auch Völker, über deren Schicksal man entscheidet, bisweilen bis hin zum Genozid. Das sind Dinge, die man nicht vergisst. Man ist verantwortlich und selbst Schuld, wenn sich die Liebe in den Kopf schießt, wenn man vielleicht sogar die engsten Freunde eigenhändig töten muss. Das sind für mich Momente, in denen Spiele die besseren Filme sind.

Das ist Geschichtenerzählen, das es so noch nicht lange gibt und das zu erfahren ich einem jeden Cineasten ans Herz lege. Entscheidungen zu fällen ist seit einigen Jahren wachsender, mittlerweile omnipräsenter Teil der Spielewelt und avanciert langsam aber sicher für sehr viele Menschen zu dem wesentlichsten Unterschied zwischen Film und Spiel. Das soll nicht heißen, dass es grundsätzlich besser ist. Die Geschichte eines anderen zu erleben kann genauso großartig sein.

Trotzdem ist der schlechte Ruf von Spielen völlig unbegründet, allzu häufig verbinden sie fast alle Kunstformen auf einmal miteinander. Von politischen Abhandlungen bis hin zu karikaturistischen Trunkenbolden – Wer keine Spiele kennt, wird immer einen wichtigen Teil der Filmwelt verpasst haben.


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