Von Ad Astra bis Joker: 5 Höhepunkte und 5 Enttäuschungen in Venedig

07.09.2019 - 19:17 UhrVor 4 Jahren aktualisiert
Brad Pitt in Ad Astra
20th Century Fox
Brad Pitt in Ad Astra
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Bevor heute der Goldene Löwe verliehen wird, blicke ich zurück auf die Tops und Flops von Venedig 2019, von Joker über den deutschen Film Pelikanblut bis hin zu Ad Astra.

Brad Pitt rast über den Mond und Joaquin Phoenix tanzt durch die versifften Straßen News Yorks. In den letzten Jahren haben die Internationalen Filmfestspiele von Venedig ihr Hollywood-Profil geschärft. Man will zwischen Cannes und Toronto ja nicht im Festivalmeer versinken. Mit Joker und Ad Astra - Zu den Sternen war der Wettbewerb prominent bestückt, doch Festivals laden dazu ein, über den Tellerrand zu schauen.

Bevor heute Abend der Hauptpreis des Festivals, der Goldene Löwe für den besten Film im Wettbewerb, verliehen wird, seien hier noch ein paar Höhepunkte und Enttäuschungen vorgestellt. Sofern es einen deutschen Start gibt, wird der natürlich auch genannt.

Die Höhepunkte und Enttäuschungen von Venedig 2019

Enttäuschung: Die "Kontroverse" über Joker mit Joaquin Phoenix

"Dieser Wahnsinn würde dem MCU gut tun", lautete mein erster Eindruck von Todd Phillips DC-Film Joker. In dem wendet sich Joaquin Phoenix als Möchtegern-Comedian der Gewalt zu. Kein Grund für Enttäuschung eigentlich, wäre da nicht die bizarre Reaktion von einigen geschätzten Kollegen hier in Venedig und vielen (vielen!) Online-Persönlichkeiten, die den Film noch nicht einmal gesehen hatten.

Joker sei ein gefährlicher Film lautete der Vorwurf, mit dem sich Twitterati und Kritiker nicht gerade mit Ruhm bekleckert haben. Warum die Diskussion über Joker fehlgeleitet ist, habe ich an anderer Stelle erklärt.

Kinostart: 10.10.2019

Joker

Höhepunkt: Die großartige Jack London-Verfilmung Martin Eden

Es gab nur zwei Filme, die mich im Wettbewerb von Venedig beinahe vom Lido geblasen haben und einer davon ist Martin Eden. Die Jack London-Verfilmung folgt einem fiktiven Schriftsteller aus kleinen Verhältnissen, der sich eine bürgerliche Bildung anlernt, aber zwischen seinen sozialrevolutionären Ambitionen, seinem Drang nach Anerkennung "von oben" und seinem unbändigen Individualismus zerrieben zu werden droht.

Der auf 16mm gedrehte Film von Pietro Marcello taucht audiovisuell ein in Wissens- und Schreibdurst des jungen Mannes, streift mit Originalaufnahmen durch das Neapel des frühen 20. Jahrhunderts und zieht den Bogen mit einfachsten Mitteln bis ins Italien der Gegenwart. Unterschiedlichste Epochen durchtränken Martin Eden, den mit Abstand aufregendsten Film des Festivals.

Der Kinostart ist noch nicht bekannt. Da der Bayerische Rundfunk (!?) den Film unterstützt hat, ist eine deutsche Auswertung zu erwarten.

Martin Eden

Enttäuschung: Der Frauenanteil im Wettbewerb von Venedig

Babyteeth von Shannon Murphy war eine wunderbare Überraschung im Wettbewerb von Venedig und Haifaa Al-Mansours The Perfect Candidate berührte durch seine Inszenierung spezifisch weiblicher Räume im Saudi-Arabien der Gegenwart.

Umso trauriger ist die dürftige Präsenz von Frauen im 21 Filme starken Wettbewerb von Venedig. Gerüchten zufolge (mehr bei Twitter ) wollte das Festival zwei weitere Filme von Frauen, deren Sales-Firmen die Kosten für den Auftritt nicht aufbringen konnten (Hotels, Reise etc. für die Interviews).

Systemische Probleme wie die kleineren Budgets, mit denen Regisseurinnen häufig arbeiten müssen, treffen hier auf die Präferenz für große (männliche) Autorenfilmernamen, blinde Flecke in der Wahrnehmung und mangelnde Flexibilität bei der Behebung dieses Ungleichgewichts.

Babyteeth

Höhepunkt: In Pelikanblut trifft Der Babadook auf Systemsprenger

Deutsche Regisseure machten sich rar beim Festival in Venedig. Immerhin eröffnete Katrin Gebbe (Tore tanzt) mit ihrem neuen Film Pelikanblut die Sektion Orizzonti (vergleichbar mit Un Certrain Regard in Cannes). Nina Hoss adoptiert darin ein kleines Mädchen aus Bulgarien, das mit seinem eskalierenden Verhalten Geduld und Psyche der Mutter auf die Probe stellt.

Horrorkindern wie in Orphan oder Das Omen wird in Pelikanblut im Grunde psychotherapeutisch auf den Grund gegangen. Was dem Horror im Übrigen keinen Abbruch tut in dem Film, der voll steckt mit ungenierten Genre-Freuden. Die Augen der kleinen Katerina Lipovska werden mich noch in meine Alpträume verfolgen.

Pelikanblut würde ein feines (lautes und erschreckendes) Double Feature mit Systemsprenger abgeben, der dieses Jahr auf der Berlinale lief.

Kinostart: 19.03.2020

Pelikanblut

Enttäuschung: Gute Schauspieler können Waiting for the Barbarians nicht retten

Johnny Depp und Mark Rylance beeindrucken in Waiting for the Barbarians, doch insgesamt bleibt die Verfilmung eines Romans von J.M. Coetzee eine große Enttäuschung. Regisseur Ciro Guerra (Birds of Passage), theoretisch maßgeschneidert für die Allegorie kolonialer Ausbeutungsmechanismen, verfällt in einen drögen Modus filmischer Adaption.

In Sets, Kleidung und Naturaufnahmen entwickelt der Film eine Aura genauer Rekreation, statt seine eigene originäre Welt zu erschaffen.

Waiting for the Barbarians

Höhepunkt: No. 7 Cherry Lane ist wunderbar bizarrer Animationsfilm

Die Szene, in der eine Katze einem jungen Mann lustvoll an den Nippeln schlabbert, gehört nicht nur zu den, ähem, Höhepunkten von No. 7 Cherry Lane, sondern des ganzen Festivals. Der in einem Zeitlupen-Tempo animierte Film von Yonfan (Bishonen - Beauty) versetzt ins Hongkong der 60er Jahre, wo sich linke Proteste sowie jugendliche wie mittelalte Gelüste zu orgiastischen Träumen vermixen.

Yonfans ungezügelte Tauchfahrt in männliche wie weibliche, heterosexuelle wie homosexuelle Lust öffnet zwischen der nostalgischen Rekreation der Stadt auch ein Fenster in die turbulente Gegenwart der Proteste in Hongkong. Dieser Film ist, lässt man sich auf sein Tempo ein, eine Freude für die Sinne.

No. 7 Cherry Lane

Enttäuschung: Netflix' The King mit Timothée Chalamet

Netflix hatte mit zwei Filmen im Wettbewerb eine starke Präsenz in Venedig. So könnte Marriage Story mit Scarlett Johansson und Adam Driver Preise abräumen. Außer Konkurrenz bot der Streaming-Anbieter allerdings Historiendurchschnitt an mit The King. Der Film von David Michôd versteigt sich im königlichen Ernst des jungen Heinrich V. (Timothée Chalamet), der in den Hundertjährigen Krieg zieht.

Einzig Robert Pattinson hatte offenbar Spaß am Set des Films, der keine klassische Shakespeare-Adaption ist, aber Szenen und Figuren des Barden übernimmt - zum Beispiel den völlig gegen die Wand gefahrenen Falstaff (Joel Edgerton).

Netflix-Start: 01.11.2019

The King

Höhepunkt: The Kingmaker ist eine mal erschütternde, mal skurrile Doku

Imelda Marcos, ehemalige First Lady der Philippinen und Witwe des Diktators Ferdinand Marcos, steht im Mittelpunkt des Dokumentarfilms The Kingmaker von Lauren Greenfield (Die Königin von Versailles). Selbstdarstellung der immens reichen Profiteurin eines Unrechtsstaates und reale Erfahrungen von Opfern kollidieren in dem clever aufgebauten Porträt von Macht- und Geldhunger.

Es geht aber um viel mehr in The Kingmaker, der nach und nach die politischen Kontinuitäten aufzeigt, die von Marcos bis zum heutigen Präsidenten Rodrigo Duterte führen. Absolut sehenswert!

The Kingmaker

Enttäuschung: Wasp Network ist ein Agentenfilm im Autopilot

Eine der härteren Enttäuschungen in Venedig ist Wasp Network von Olivier Assayas (Zwischen den Zeilen). Die Zutaten des Agentenfilms über das Ringen kubanischer und exilkubanischer Kräfte im Florida der frühen 90er Jahre bringt alle Zutaten eines zweiten Carlos - Der Schakal mit.

Doch der Film mit Édgar Ramírez, Penélope Cruz und Gael García Bernal klappert seltsam desinteressiert die twistreichen Stationen der wahren Geschichte ab, über die man im Vorfeld ruhig so wenig wie möglich wissen sollte, um die wenigen Momente der Verblüffung zu genießen.

Wasp Network

Höhepunkt: Ad Astra mit Brad Pitt ist ein überwältigendes Sci-Fi-Drama

Einen seiner besten Filme hat James Gray mit Ad Astra - Zu den Sternen gedreht, in dem Brad Pitt sich in der Zukunft Richtung Neptun aufmacht, um seinen vermissten Vater aufzuspüren. Das Science-Fiction-Drama reichert seine einfache, aber emotional aufreibende Story mit einer überwältigenden Inszenierung des Alls an, untermalt von Max Richters Score.

Bei allen Effekten und filmemacherischen Tricks darf man aber auch Brad Pitt und seine Co-Stars nicht vergessen, die vielfach stumm ihre ganz eigenen Galaxien für uns öffnen. Ein wunderschönes Werk und neben Martin Eden der zweite großartige Film in Venedig.

Kinostart: 19.09.2019

Ad Astra

Das wären 5 Höhepunkte und 5 Enttäuschungen von insgesamt 42 Spielfilmen, die ich dieses Jahr aus dem Programm der Festspiele gesehen habe. Heute Abend beginnt die Abschlussgala von Venedig 19 Uhr. Die Preisträger könnt ihr dann hier bei Moviepilot nachlesen.

Auf welche Filme aus dem Programm von Venedig freut ihr euch?

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