Spielberg, Sex & Tränengas - Cannes & die Homo-Ehe

01.06.2013 - 08:50 UhrVor 11 Jahren aktualisiert
Wild Bunch/Universal/moviepilot
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Fließende Freudentränen in Cannes, fliegendes Tränengas in Paris. In dieser Woche überlasse ich anderen die Aufregung – etwa den 150.000 Demonstranten gegen die Homo-Ehe – und zolle stattdessen Steven Spielberg und Co. für ein kleines Zeichen Tribut.

Während letzten Sonntag beim Festival Cannes Sekt und Tränen zu Ehren von Blau ist eine warme Farbe flossen, dem diesjährigen Preisträger der Goldenen Palme über eine innige und leidenschaftliche Liebesaffäre zwischen zwei Mädchen, sah sich die Polizei der französischen Hauptstadt mit 150.000 Demonstranten und einigen Hundert Radikalen konfrontiert. Die (irrationale) Wut überlasse ich in dieser Woche jenen traurigen Gestalten, die auch Wochen nachdem die französische Nationalversammlung das Gesetz über die “Ehe für Alle” verabschiedet hatte, blind weiter demonstrieren. Ein Gesetz, das gleichgeschlechtlichen Paaren das Recht auf Heirat und Adoption ermöglicht. Stattdessen zolle ich der Jury vom Festival Cannes Respekt, die ein kleines Zeichen setzte, auch wenn sie ihre Rolle als politischer Wegweiser gänzlich von sich weist.

Nur eine unaufgeregte, aber umso interessantere Frage erlaube ich mir. Warum? Warum steht ihr – geehrte Jury – nicht zu eurer Entscheidung? Selbst wenn eure Intention nicht politischer Natur gewesen sein sollte, trug das aktuelle politische Klima in ganz Europa euch diese Bürde just in dem Moment auf, als ihr die Gewinner des Filmfestival bekannt gabt. Wieso auch nicht? Die Ernennung eines Films kann eine Signalwirkung für homosexuelle Gleichberechtigung besitzen, OHNE dass dadurch seine filmischen Qualitäten und Reputation aus dem Fokus verdrängt werden.

Filmkultur und Politik
Die Jurymitglieder Steven Spielberg, Ang Lee, Nicole Kidman und Christoph Waltz sowie dem französischen Schauspieler und Regisseur Daniel Auteuil, der indischen Schauspielerin Vidya Balan, den Regisseurinnen Lynne Ramsay und Naomi Kawase und ihrem Kollegen Cristian Mungiu können noch so ihre unvoreingenommene Absichten und die Universalität des Films betonen, im Europa unserer Tage will, wird und muss ein solches Signal in erster Linie auf eine Weise interpretiert werden: politisch. Haben Steven Spielberg und Co. ihre Macht als Juroren dazu genutzt, ein Statement zu setzen? Die Filmemacher selbst dementieren und betonen, es wäre nicht die Politik gewesen, die sie bei dieser Entscheidung beeinflusst hätte, sondern der Film selbst. Die schöne Geschichte über eine wunderbare Liebe, mit der sich jeder identifizieren könne, unabhängig von seiner Sexualität, das wäre der ausschlaggebende Grund für den Film gewesen (via).

Die Medien sehen dies natürlich anders. Zurecht. Die Homo-Ehe treibt in vielen europäischen Ländern Menschen auf die Straße, meist diejenigen, die darin eine Bedrohung der “natürlichen Ordnung” und “familiärer Werte” sehen. Umso mehr wird es Zeit, dass sich die Kultur wieder ihres politischen Einflusses gewahr wird. Wie einst, als sich 1968 die Jury des gleichen Filmfestivals rund um Roman Polanski und Jean-Luc Godard mit den Studenten der Pariser Maiunruhen solidarisch erklärten und sich für den Abbruch des Festivals aussprachen, was tatsächlich zum vorzeitigen Ende der Veranstaltung führte.

Konservatismus ist seit jeher ein Giftstachel im Fleisch des gesellschaftlichen Wandels und zeigt in solchen Zeiten sein gewohnt ignorantes Gesicht. Seit der Verabschiedung des französischen Gesetzes sehen selbst dessen moderaten Gegner die Schlacht für verloren, trotzdem hetzt der erz-reaktionäre Flügel die Massen weiter auf. Friedliche Demonstrationen oder randaliererende Radikale, Hauptsache, die Emotionen des Mobs kommen nicht zum Erliegen. Aber wie lange soll das noch weiter gehen, wenn selbst 75% der Franzosen laut einer Umfrage der Meinung sind, dass die Demonstrationen endlich aufhören sollten?

Cannes stellt sich queer
Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet diese illustre Cannes-Jury bestehend aus mehrfachen Oscargewinnern – Steven Spielberg, Ang Lee, Nicole Kidman und Christoph Waltz – sich zu einem solch politisch aufgeladenen Zeichen hinreißen ließ. Es scheint, als ob sie – befreit von den Fesseln der Academy und fernab von Hollywood – mit der Hilfe ihrer Kollegen endlich ihren Status für etwas Bedeutsames einsetzen wollten abseits der Massenbespassungs- und PR-Lethargie Hollywoods. Wir wissen schließlich nur zu gut, wie sehr die US-amerikanische Filmbranche sich davor hütet, bei Themen von öffentlichem Interesse, Stellung zu beziehen. Jüngst wieder zu beobachten, als die noch andauernde VFX-Krise der Academy in Verlegenheit brachte und darum konsequent ignoriert wurde. Dabei ging es “lediglich” um wirtschaftliche und nicht soziale Grundsatzfragen, wie sie zur Zeit die Gemüter bewegen.

Übrigens gewann in der Nebenkategorie “Un certain regard” der Film Der Fremde am See den Regiepreis. Ein weiterer, expliziter Beitrag über ein homosexuelles Liebespaar. Und Michael Douglas zeigte als schwuler Entertainers Liberace in Steven Soderberghs (vorläufig) letzten Kinofilm Liberace zudem die beste Leistung seines Spätwerks. Auch wenn der Schauspieler trotz Favoritenrolle leer ausging, spricht der Umstand, dass dieser von der Kritik gefeierte Film von der oben erwähnten Altherren-Spießerparade von Hollywood nicht produziert werden wollte, Bände. Stattdessen wurde er dank der Hilfe des Senders HBO für das Fernsehen umgesetzt. Ein Trauerspiel, dass selbst Ausnahmeregisseure wie Steven Soderbergh mittlerweile nicht mehr in der Lage sind, Filmprojekte nach eigenen Vorstellungen und ohne Kompromisse fürs Kino zu produzieren. Ein Aufreger für sich, den ich mir vielleicht für nächste Woche vornehme.

Kleines Schlusswort
Was wäre ein Aufreger der Woche wert, wenn wir uns nicht auch einmal Zeit für positive Entwicklungen nähmen? An Aufregern fehlte es in dieser Woche zwar nicht – Disney ließ die Debatte um ihr sexualisiertes Frauenbild nicht zur Ruhe kommen, die deutsche Filmförderung befindet sich so stark wie seit Langem nicht in der Kritik und ein Aufreger über den von der deutschen Filmakademie in Kryostase gehaltenen deutschen Genrefilm läge mir ebenfalls auf der Seele – aber nicht heute, nicht jetzt. Stattdessen verweise ich auf diesen optimistisch stimmenden Artikel, in der Hoffnung auf eine Zukunft ohne Wut in Bauch, zumindest was dieses Thema betrifft.

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