Nach Leonardo DiCaprio-Tortur: Der Netflix-Film Bardo vom Revenant-Macher spaltet mit Leichenbergen das Publikum

02.09.2022 - 16:00 UhrVor 2 Jahren aktualisiert
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Sieben Jahre nachdem er einen Bären auf Leonardo DiCaprio losließ, kehrt Alejandro González Iñárritu mit der Nabelschau Bardo zurück. Die Kritik ist nicht begeistert, aber ist die Abneigung gerechtfertigt?

Timothée Chalamet, der am heutigen Freitag auf dem Lido wie ein verlorener fünfter Beatle empfangen wurde, hat Stans. Das ist bekannt. Regisseur Alejandro González Iñárritu wird wohl mit weniger Teenie-Geschrei begrüßt, aber in der Welt der Cinephilen gibt es Iñárritu-Ultras, die den Regisseur von The Revenant und Birdman als großen Meister verehren, der glücklicherweise unter uns weilt. Ich gehöre nicht dazu. Umso seltsamer war es, seinen neuen Film Bardo bei den Filmfestspielen in Venedig zu sehen, irgendwie zu mögen und dann mitzubekommen, dass der Rest der Welt ihn verreißt.

Der Netflix-Film Bardo spaltet mit seiner Nabelschau das Publikum

Bardo bzw. Bardo, False Chronicle of a Handful of Truths, sei womöglich noch prätentiöser als sein Titel, schreibt die Variety . Der Film würde sich selbst und vor allem seinen Filmemacher abfeiern, findet Vanity Fair . Begriffe wie "inkohärent", "ausschweifend" und "unersättlich" finden sich in den Reaktionen. Sie sind negativ gemeint, sollte man dazusagen.

In der Tat: Die Laufzeit von Bardo beträgt 174 Minuten und die Story bereitet das Feld für eine Nabelschau von Iñárritu. Sein Film-Alter-Ego ist der Journalist und Dokumentarfilmer Silverio (Daniel Giménez Cacho aus Zama). Auf dem knallroten Poster des Films sieht er aus wie sein Regisseur auf dem Weg zur nächsten Festival-Pressekonferenz.

Silverio begann seine Karriere in Mexiko, aber nach dem großen Erfolg zischte er in die USA ab. So ähnlich wie Alejandro González Iñárritu. Auf den Durchbruch mit Amores Perros folgte 21 Gramm mit Naomi Watts und Sean Penn und dann auch noch Babel mit Brad Pitt. Mehr USA als Brad Pitt geht nicht.

Seitdem schwang sich der Regisseur mit Birdman und The Revenant in die höchsten Höhen der Traumfabrik auf. Anmerkung am Rande: In seinem englischen Wikipedia-Eintrag werden im ersten Absatz seine "bedeutendsten Filme" aufgezählt und es sind alle bisherigen Spielfilme von Iñárritu. Auch Biutiful.

Muss dieser Netflix-Film wirklich 174 Minuten lang sein?

Silverio streunt in Bardo von einer "bedeutungslosen" Episode zur nächsten, wie ein Träumer, der nicht erwachen kann. Sie sind seinem Leben und seiner Arbeit entnommen: Er filmt gewaltige Ströme von Migranten auf den Weg in die USA, verbringt einen Sommertag mit seiner Familie in einem diskriminierenden Ressort oder trifft auf dem leergefegten Unabhängigkseitsplatz in Mexiko-Stadt den Conquistador Hernán Cortés. Der sitzt auf einem Berg von Leichen der Azteken, die er gemeuchelt hat und lädt zum Gespräch.

Teils schwer durchschaubare Referenzen an die mexikanische Geschichte und Politik speisen die Träume unseres Helden, der sich selbst in einem Schwebezustand befindet: Zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen den USA und Mexiko, zwischen Kommerz und Idealen. Oder, wenn man so will: Zwischen dem 500-Millionen-Erfolg The Revenant und Amores Perros.

Braucht es 174 Minuten, um diesen autobiografischen Spießrutenlauf mitzumachen? Als Verfechterin von kurzen Filmen muss ich natürlich mit nein antworten. Andererseits scheint mir Disziplin die falsche Anforderung für einen Film dieser Art zu sein. Bardo ist unangenehm persönlich, hin und hergerissen zwischen dem Stolz auf das Erreichte und der Trauer über den Verlust der Heimat. So nah war man Iñárritu als Mensch in keinem Film. Das ist für einen Regisseur, der dermaßen von seinem eigenen Schall und Rauch eingenommen ist, schon eine löbliche Weiterentwicklung.

Bardo könnte einer der letzten seiner Art bei Netflix sein

Von Iñárritus Bilderwucht gibt es in Bardo natürlich auch einiges zu bestaunen, eingefangen von Kameramann Darius Khondji, der sich nach Armageddon Time in Cannes zum MVP der Festival-Saison 2022 entwickelt.

Für Netflix könnte Bardo jedenfalls einer der letzten seiner Art sein. Viel zu lang, selbstverliebt, thematisch nischig und, wie der cinephile Muskelgott Vin Diesel sagen würde, extrem "felliniesk" – es ist zu bezweifeln, ob der unter Sparzwang stehende Streaming-Dienst sowas in Zukunft durchwinkt.

Nicht dass ich ich noch drei andere Bardos sehen will. Aber wenn einer der angesehensten Regisseure unserer Zeit so lange frei dreht, bis sich sein Innerstes nach außen kehrt, begrüße ich das. Andere Regisseure können Bären auf Leonardo DiCaprio hetzen. Aber nur Iñárritu konnte diesen Bardo drehen, im Guten wie im Schlechten.

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