Was springt einem zuerst ins Hirn beim Wort Spektakel: Eine Verfolgungsjagd? Eine Explosion? Das ekstatische Gesicht von Michael Bay unmittelbar nach dem pyromanischen Koitus? Die Marvel-Serie Legion hat gelegentlich waschechte Action zu bieten. In der ersten Folge wurde sich immerhin durch eine Plansequenz geballert. Das Gros der Serie fährt allerdings eine andere Art Spektakel auf. Es sind knallige Sets, Zeitlupen, träumerische Überblendungen, in Serie gefasste Alptraumbilder und Tanzszenen. Die Tanzszenen! Andere Serien geben sich als Rätsel, das es zu entziffern gilt, Legion ist die Brotkrumenspur, die uns in den Kaninchenbau führt. Wir sollen uns verlieren in dem surrealen Superheldenabenteuer. Nachfragen sind erlaubt, Antworten können auf sich warten lassen. In Kapitel 9, der Auftaktfolge der 2. Staffel, wachen wir mit dem telepathisch begabten Mutanten David Haller (Dan Stevens) mitten in einem Bienenstock auf.

Legion - ein Jahr nach Staffel 1

Viel hat sich in den letzten 362 Tagen getan, zumindest für alle außer David. Am Ende der 1. Staffel war er von einem UFO-Kügelchen entführt worden, und es gibt wahrlich wenige Serien, in deren Recaps man solche Sätze schreiben kann. Für David ist, so sagt er, nur ein Tag vergangen. Derweil liegt fast ein Jahr in der echten Welt hinter ihm, als er in der orwellesken Division 3 aufwacht. Das Hauptquartier der Organisation für den Umgang mit Mutanten ähnelt mit seiner wiederkehrenden Sechseck-Struktur einem Bienenstock. Da passt es, dass der Kopf von Division 3, Admiral Fukuyama, einen Weizenkorb trägt. Das Kostüm erinnert an japanische Komusō-Mönche, die bienenstockförmige Körbe auf ihren Köpfen tragen, unter anderem, um ihr Ego zu "entfernen". Im Falle von Fukuyama wird dieses Motiv der durch seine wandelnden "Münder" weitergetragen: Als Vermillions werden die drei Figuren bezeichnet, weibliche Androiden mit Schnurrbart und Matte irgendwo zwischen Dennis Franz und Ringo Starr. Entsprechend redet Fukuyama von sich in der Mehrzahl. "Wir" seien einmal ein Junge gewesen, nun aber ausgestattet mit einer Maschine im Kopf, "eine Maschine, die blutet, das Organisationsprinzip". Ob er einmal ein Mutant wie David war?

Dieser Fukuyama erzählt David von dem Plan des Shadow King. In der letzten Staffel hatte Amahl Farouk von Oliver Bird (Jemaine Clement) Besitz ergriffen. Gerade aus der Astralebene entkommen und mit seiner Frau Melanie (Jean Smart) wieder vereint, verschwand Oliver, begleitet von dem Gedankengebilde Lenny (Aubrey Plaza). Nun sehen wir sie lethargisch in der Sonne brutzelnd, gefangen vom Shadow King, der seinen Körper sucht. Findet er diesen Körper, den er im Kampf mit Davids Vater einst verloren hatte, so Fukuyama, werde der Shadow King unbesiegbar sein. Und noch etwas: Amahl Farouk ist über 200 Jahre alt. Es ist ein Rennen, fasst David den mutmaßlichen Handlungsbogen der 2. Staffel von Legion zusammen.

Kaum eine Serie liebt das Spektakel so wie Legion

Dass es so einfach nicht ist und doch irgendwie schon, zeigt bereits der Staffelauftakt. Zu den Stärken von Legion gehört, wie Noah Hawley und seine Autoren uns Zuschauer immer wieder daran erinnern, dass es um etwas geht. Die visuellen Exzesse mögen nicht alle einem klar nachvollziehbaren erzählerischen Zweck unterliegen (eine andere Stärke von Legion). Schließlich trägt das Spektakel, die pure Lust am visuellen Exzess, Legion wie kaum eine andere Serie abseits des Cinemax-Katalogs.

Ein Rettungsring wird trotzdem regelmäßig ausgeworfen. Zwischen den stilistischen Spielereien etablieren die Autoren klare Beziehungen und Ziele für ihre Figuren. David will Syd finden und seine Schwester retten. Melanie sehnt sich nach ihrem Ehemann. Cary (Bill Irwin) sorgt sich um Kerry (Amber Midthunder). Der Shadow King will die Kontrolle über einen mächtigen jungen Mutanten erlangen, um seinen Weg zurück in die Realität zu erzwingen. Alltägliche Probleme eben. In Staffel 2 wird dies weitergeführt. Syd (Rachel Keller) teilt nun mit Melanie die Erfahrung, den Geliebten verloren zu haben. In der Zwischenzeit haben sich beide verändert (sie mag jetzt Kirschkuchen). David trägt Geheimnisse und Stimmen mit sich herum. Um diese zu wahren, belügt er sogar Syd. Das Konfliktpotential ist etabliert.

Wie viel Shadow King steckt in Davids Persönlichkeit - das war eine der wichtigsten Fragen der 1. Staffel von Legion. Durch die Trennung von dem telepathischen Parasiten fand David zu sich selbst, zu seiner geistigen und persönlichen Unabhängigkeit. Nun führt uns die Integration der Summerland-Crew in Division 3 zu einem Schwarmbewusstsein, dem institutionellen Bienenstock, der im Vergleich zum hippiesken Summerland wenig einladend wirkt. Alldieweil greift überball, wo Oliver/Shadow King auftaucht, eine Art psychischer Virus um sich namens Catalyst, Menschen erstarren in der Bewegung und knirschen mit den Zähnen. Es ist der Wahnsinn der Masse, wie es in einem Kapitel der Folge heißt. Ein unangenehmes Geräusch im Übrigen, für das den Sounddesignern Applaus gebührt - oder Mitleid.

Der Wahnsinn der Masse

Das 9. Kapitel von Legion kulminiert in einer Art Zeitreise über die Astralebene. In einem Flashback wird enthüllt, dass David sich an sehr viel mehr erinnert, als er zugibt: Syd aus der Zukunft erklärt ihm in der UFO-Kugel mit einer Scharade, er müsse dem Shadow King helfen, an seinen alten Körper zu kommen, sonst würde viel Schlimmeres geschehen. Eine einarmige Syd, wohlgemerkt, was als Hinweis gedeutet werden kann, sie sei dem "Wahn" verfallen, wie jener Mann, der sein eigenes Bein plötzlich für fremd hielt und es absägte. Immerhin krabbelte vorher die "wahnhafte Idee", das ölige schwarze Monsterküken unter ihr Bett. Eine dunkle Erinnerung an Twin Peaks: The Return, wo ein Atomtest das Böse gar nicht mal unähnlich in die Welt und in einen Teenager-Mund befördert hatte.

Vielleicht steht Zukunfts-Syd also selbst unter dem Einfluss des Shadow King. Die Summerland-Crew/Division 3 aus der Zukunft könnte aber auch den Plan verfolgen, den Shadow King mit seinem Körper zu verbinden und ihn so zu töten. In jedem Fall steht die Individualität, das unabhängige Ego, wenn man so will, auch in der 2. Staffel von Legion auf dem Spiel. Nicht zuletzt bei David, der beim Waffel-Futtern in der Division 3-Kantine verdächtige Selbstgespräche in seinem Kopf führt.

Ein Dance Battle als beste Actionszene des bisherigen Serien-Jahres

Die Landschaftsarchitektur beim Labyrinth Legion ist jedoch ebenso interessant, wenn nicht sogar interessanter als dessen Ziel. Hier lässt das 9. Kapitel nichts zu wünschen übrig. Zu Beginn fühlt sich alles noch unzusammenhängend an, wechseln sich die für die Serie typischen Expositionsbomben mit surrealen Abstechern ab. Schon bald stellt sich jedoch der Legion-Sog ein. Eben dieses Angebot, sich fallen zu lassen in der kreativsten Superheldengeschichte, die derzeit in Fernsehen, Streaming oder Kino erzählt wird. Vergangene Season gipfelte die musikalische Action von Legion in dem Bolero mit dem Shadow King. Mit Hilfe von Carys Mini-Cerebro, ein paar Steckern in einem Moog-Synthesizer und der elektronischen Komposition von Jeff Russo trägt David nun erneut einen Gedankenkampf aus. Auf der Tanzfläche steht er Lenny und Oliver gegenüber, alle drei mit ihrer eigenen kleinen Crew und Choreografie. In blaues Scheinwerferlicht getaucht, wird aggressiv gehüpft, verführerisch verbogen, bis sich das Theme der Serie hineinmischt und mit ihm die Andeutung gewaltiger Kräfte. Explosionen allerdings sind überflüssig.

Zitat der Folge: "Beware of ideas that are not your own."

"I try never to have conversations about time."
Ein reddit-User hat den gruseligen Minotaurus (Stichwort Labyrinth etc. pp.) in der Schulkasse entdeckt. Hier das Bild.
"Vacant lot" ist nicht nur ein deprimierendes Wort, sondern Schauplatz jedes zweiten Superheldenfilm-Klimax' der letzten Jahre.
Zeitreisen werden thematisiert und David hockt einmal nackt herum wie der T-800.
Zhuangzi und seinen Schmetterlingstraum gab es wirklich.
Cary mixt 5 Prozent Erdbeer-Extrakt in seinen kleinen Cerebro
Die Erzählerstimme stammt von Jon Hamm.
Wunderbar, wie die vernarbte Seite von Clark beim Gespräch mit David als Bad Cop inszeniert wird.
Für die nächste Folge wird Ana Lily Amirpour (A Girl Walks Home Alone At Night) als Regisseurin geführt.
Ob Hawley mit der Betonung des "Wahns", der alle anderen Ideen zerstört, das Leitthema aus der 3. Staffel von Fargo weiterführt?

Mehr: Legion - Wer ist der Typ mit dem Korb auf dem Kopf & andere brennende Fragen

Die 2. Staffel von Legion läuft immer Mittwoch um 21:00 Uhr auf FOX in Deutschland und ist danach bei Sky Ticket zu sehen.

Legion ist auch in Staffel 2 die aufregendste Marvel-Serie im TV

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