Alka Seltzer, Augentropfen, Dusche, Vivaldis Konzert in G-Dur. "It's showtime, folks!" Das ist
das alltägliche Prozedere von Joe Gideon, dem Alter Ego von Bob Fosse. Letzterer ist der
Mann hinter dem Quasi-Biopic Hinter dem Rampenlicht (im Original unter dem meilenweit besseren Titel All That Jazz bekannt), in dem der exzentrische Choreograph, Tänzer, Schauspieler, Drehbuchautor und Regisseur sein turbulentes Leben Revue passieren
lässt. Hinter dem Rampenlicht ist für Fosse das, was Achteinhalb für Federico Fellini war: ein erstaunlich selbstloses und selbstironisches Testament eines renommierten Künstlers in einer Schaffenskrise. Sein Blick hinter die Kulissen des Broadway-Showbiz ist ein schillerndes und zugleich pessimistisches Porträt eines obsessiven und alles verschlingenden Mannes, der einerseits von der Scheinwelt des Broadway lebt und andererseits an ihr zerbrechen muss.
Joe Gideon (Roy Scheider) ist ein erfolgreicher Regisseur und Choreograph am Broadway, der an dem strapaziösen Schnitt seines neuen Films beschäftigt ist, während er zeitgleich seine erotisch aufgeladene neue Show vorbereitet. Gideon ist erschöpft von beruflichem Stress und seiner andauernden Unzufriedenheit mit sich selbst und auch die Konflikte mit seinen Frauen, die aus seiner notorischen Untreue erwachsen, machen ihm zu schaffen. In seinen fiebrigen Tagträumen erscheint ihm der Tod in Person einer engelsgleichen Frau (Jessica Lange). Nur ihr öffnet er sich und erzählt von seiner Vergangenheit, seinen gefeierten Shows und seinen gescheiterten Beziehungen. Mitten während seiner Vorbereitungen an seinem Musical erleidet er einen Herzanfall. Im Krankenhaus träumt der stark narkotisierte Gideon während einer Herzoperation, dass er eine Show inszeniert, in der die Frauen seines Lebens auftreten, was ihm erneuten Lebenswillen gibt. Die Operation gelingt, doch kurz darauf bekommt er einen weiteren Herzanfall, der seine Show erneut in Gefahr bringt und Gideons Grenzen zwischen Realität und Traumwelt zusehends verschmelzen lässt.
Warum ich Hinter dem Rampenlicht mein Herz schenke
Die sensationellen Tanznummern in dem für Fosse typisch surrealen und überbordenden Stil, die dynamischen Aufnahmen von Fellini-Kameramann Giuseppe Rotunno (Amarcord, Fellinis Satyricon) und ein so fiebriger wie rastloser Roy Scheider, den ihr vielleicht eher aus Action-Kultfilmen wie Der Weiße Hai oder French Connection - Brennpunkt Brooklyn kennt, sind allein schon Grund genug dafür, warum Hinter dem Rampenlicht mein Herz gewonnen hat. Aber auch Fosses pessimistischer Blick auf die sonst so vordergründig fröhlichen und sorgenlosen Kunstwelten des Musicals eröffneten mir einen völlig neuen Blick auf ein Genre, dem ich völlig zu Unrecht lange Zeit die kalte Schulter zeigte. Das hat sich vor allem dank Hinter dem Rampenlicht verändert, weshalb dieser Film trotz seiner Komplexität der vielleicht beste Einstieg für jeden Musical-Hasser ist. Womit wir zum nächsten Thema kommen...
Warum auch andere Hinter dem Rampenlicht lieben werden
Wer keine Musicals liebt, wird Hinter dem Rampenlicht lieben. Denn Bob Fosses Film ist viel mehr als „nur“ ein Musical. In dem überbordenden Film stecken Biografie, Musical, Drama und beißende Gesellschaftssatire zugleich. Es ist also praktisch für jeden etwas dabei. Und die Gesangs- und Tanznummern beschränken sich auf eine angenehm überschaubare Anzahl, sodass ihr nicht alle fünf Minuten Angst vor einem neuen, ganz "spontan" angestimmten Musikstück haben braucht. Ich kenne nicht viele Musicals, in denen so schön sparsam mit dem Einsatz von Tanz und Musik umgegangen wird. Andererseits ist Hinter dem Rampenlicht eben nicht nur ein Musical.
Warum Hinter dem Rampenlicht die Jahrzehnte überdauert
Bob Fosses fiebertraumartige Liebeserklärung an die Kunstwelt des Broadway und seine gleichzeitige Abrechnung mit genau jener ist für mich ein zeitloser Meilenstein in der Geschichte des Musicals. Gerade die visuelle Ausgelassenheit und der scharfe Zynismus hinter der Geschichte über das Bühnen-Showbusiness machen Hinter dem Rampenlicht zu einem der besten Musicals aller Zeiten. Vergleichsweise zahme Genrevertreter wie Chicago oder Nine mögen vielleicht kurzweilig und schön anzusehen sein, doch hinsichtlich der inszenatorischen Brillanz und der satirischen Treffsicherheit von Fosses Meisterwerk stehen die meisten Musicals im Schatten von Hinter dem Rampenlicht.
Fun-Fact zum Schluss: Als Bob Fosses Film 1979 in den Kinos anlief, urteilte Regielegende Stanley Kubrick, dass Hinter dem Rampenlicht der beste Film sei, den er je gesehen habe. Wenn das kein schlagendes Gütesiegel ist, dann weiß ich auch nicht weiter.
Sometimes I don't know where the bullshit ends and the truth begins.